Um das mal in einen zeitlichen Kontext zu bringen, weil ich mir vor kurzem aus purer Langeweile Gedanken über mögliche Szenarien gemacht habe: Meine persönliche Vermutung ist, dass diese ganze Crowdfunding-Geschichte nicht gänzlich auf Wintersun, sondern auch auf Nuclear Blast zurückzuführen ist. Man wird es höchstwahrscheinlich nie erfahren, weil sich beide Seiten dazu ausschweigen, was ihr gutes Recht ist. Aber man muss sich zunächst vor Augen führen, dass Wintersun jahrelang keine Live-Auftritte hatten, kaum Merch angeboten haben, dadurch also kaum Einnahmen generieren konnten. Gleichzeitig hat Jari aber, und das konnte man im damaligen Forum - also ca. um die Jahre 2005-2008 oder 2009 - immer wieder nachlesen, desöfteren teure Hardware angefordert, um das Album fertigzustellen. Man kann es auch abkürzen: er war naiv, dass er das alles mit ein paar teuren Computern geregelt bekäme, und einige private Dinge kamen wohl auch noch hinzu. Und Nuclear Blast war im Grunde ebenso naiv. Mein persönlicher Eindruck ist, dass dieses Crowdfunding nicht nur dazu dient(e), um die Baukosten des Studios zu decken, sondern auch - viel wichtiger -, um die Schulden abzubauen. Wer weiß schon, was hinter den Kulissen läuft? Vielleicht hat man sich darauf geeinigt, dass Nuclear Blast all dem Quatsch zustimmt, wenn man ihnen ein größeren Teil als üblich von Merch- und CD-Verkäufen überlässt, was wiederum aber heißen würde, dass er selbst und seine Kollegen ja auch von irgendetwas leben müssen. Oder Nuclear Blast hat einen Teil des Crowdfundings als direkte Kompensation gesehen. Ich weiß es nicht, das sind lediglich ein paar Gedankenspiele.
Worin ich persönlich ein Problem sehe, ist diese arrogant-spöttische Habe vom Meister, der es ja nur selbst produzieren könne. Und wenn schon? Ein Studio wächst nicht aus dem Boden und nicht jeder hat dieselben Mittel, um sich ein solches zu leisten. Woher sollen wir wissen, wie Sneap, Bogren und Co. das gestämmt haben? Viel Spekulation und daher für mich keine Grundlage, um nun Jari auf bestimmte Aspekte festzunageln. Irgendwie amüsiert mich das aber, denn zu den häufigsten Kritikpunkten, die man speziell in diesem Forum in Bezug auf Nuclear Blast liest, zählt nicht etwa nur ihre VÖ-Politik mit unterschiedlichsten Editionen, sondern dass alles von den immergleichen Produzenten, den Sneaps, Tägtgrens und Bogrens, stammt. Kann man es ihm wirklich verübeln, dass er darauf keine Lust hat und lieber sein eigenes Ding machen möchte? Man braucht ja immer ein Feindbild, das habe ich mittlerweile schon verstanden, aber ob die Crowdfunding-Saga tatsächlich für den Arsch war, werden wir weder gestern, noch heute, morgen oder gar übermorgen, wissen, sondern in 10-15 Jahren. Ja, vielleicht ist das Megalomanie, aber für mich erscheint es nicht allzu logisch, dass einem alles zu gleichförmig klingt, weil es immer wieder dieselben Leute produziern, und dann auf der anderen Seite jemanden dafür zu kritisieren, dass er eine eigene Vision verfolgt und diese unabhängig verwirklichen und einfach nicht so wie viele andere Bands klingen möchte. Ich mag das Argument ja selbst nicht, aber man muss das doch nicht unterstützen. Und nochmal: Man hat bei der ersten Crowdfunding-Aktion drei Alben und extrem viel Bonusmaterial für 50€ bekommen. Man wurde also nicht abgezogen und hat auch keine 40€ für ein Fruit Of The Loom Shirt gelöhnt. Und die Band ist auch nicht vom Erdboden verschluckt worden, sondern hat viel getourt und war auch rege in sozialen Netzwerken präsent.
Und jetzt Patreon. Auch hier sehe ich kein richtiges Problem. Wintersun besteht aus vier bzw. fünf Mitgliedern, alle müssen von irgendetwas leben. Zumal Jari augenscheinlich nicht zu den Arschlöchern gehört, der seine Mitglieder um ihren Anteil prellt, obschon er das "Mastermind" ist, das nahezu alles selbst schreibt. Man sollte nicht glauben, dass das Geschäft im Jahre 2020 immer noch so funktioniert wie vor 20, 30 oder vielleicht sogar 40 Jahren. Es gibt zahlreiche Künstler, die via Twitch streamen, Content kreieren und damit Donations kassieren, sich Alben crowdfunden lassen, Spirituosen verkaufen oder sonstige Wege einschlagen, um von ihrem Musikerberuf leben zu können. Was soll daran denn bitte verwerflich sein? Vielleicht lässt sich das nicht zwingend auf Wintersun projizieren, das können wir aber nicht genau wissen, aber viele reissen sich einfach den Arsch dafür auf, ihre Vision zu verwirklichen und dabei ihren Fans, also anderen Menschen, eine Freude zu bereiten. Da ist es für mich nicht schlimm, ihnen eine Absicherung zuzugestehen bzw. ein zweites Standbein (das kann auch ein positiver Effekt eines Studios sein) zu gönnen. Ja, vielleicht ist Jari nur ein Spinner, aber ich kann und will mir das Urteil nicht anmaßen, weil ich weder ihn noch andere Künstler persönlich kenne.
Ich bleibe also erstmal bei der Ansicht, dass das größte Problem der Wintersun-Causa die Kommunikation in den Jahren 2004 bis ~2010/2011 war, wodurch man sich zu einer Art Meme entwickelt hat. Naivität könnte dabei sicherlich eine Rolle gespielt haben.
Falls es jemanden interessiert, hier ein Artikel zur aktuellen Situation von Nuclear Blast. Ähnliches ist auch bei Napalm Records geschehen. Hängt vielleicht nicht direkt mit dem Thema Wintersun zusammen, macht aber meines Erachtens nach deutlich, warum es für die Künstler selbst ein cleveres und wichtiges Modell sein kann, die Medienvielfalt für sich, ihr Einkommen und ihre Kunst zu nutzen:
https://www.metal1.info/specials/nu...hMEpxYynpLtVbNH0Tse8IHFROKoM9HpP7RrdpJGS8o1gI