Erinnerungen an André Matos:
Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich „A cry from the edge“ von VIPER das erste Mal hörte, „Hard‘n‘Heavy“ auf HR3. Ich habe damals die Sendungen immer auf Kassette aufgenommen, für den Fall, das etwas Überragendes dabei sein sollte. In diesem Fall habe ich das Ding in voller Lautstärke noch einige Male in der selben Nacht abgespielt (ich glaube, das lief damals im Radio erst 23:00 Uhr oder so), bis meine Eltern sich beschwerten... Für den jungen HELLOWEEN-Fanatiker war das endlich, endlich neuer Stoff, der genau den Aspekt der Vorbilder hervorhob, den man so geil fand, und den kaum ein anderer zu der Zeit zu verstehen schien (inklusive des Originals). Das muss so 1992 gewesen sein, als das Album von Massacre re-released wurde. Damals war das noch nicht so wie heute mit dem Internet, d.h. die Band existierte bis dahin eigentlich nicht in Europa. Das Album habe ich mir dann sofort besorgt und rauf und runter gehört. Ich liebe es immer noch und kann es jeden Tag auflegen, diese Mischung aus Punk-Energie (und dementsprechend teilweise holpriger, aber energetischer Performance) und hochmelodischem Power Metal habe ich so eigentlich nie wieder erleben dürfen.
Das eigentliche Aha-Erlebnis und die große Stunde des André Matos kam aber dann im nächsten Jahr mit dem Debüt von ANGRA. „Carry On“... was soll man da noch sagen? Einer der geilsten Songs des Genres, bzw. eigentlich einer der ein ganzes Genre geprägt hat. Zwar hatten HELLOWEEN mit „Eagle fly free“ vorgelegt, das ist ja quasi die Blaupause für ein ganzes Genre (die aber HELLOWEEN selbst witzigerweise eher nur sehr sporadisch nutzten). Aber „Carry On“ dachte das Ganze irgendwie noch einige Schritte weiter, nahm genau die Elemente, die HELLOWEEN so eher zufällig entdeckt und in ihre Arrangements hinein experimentiert hatten (z.B. klassisch-orchestrale Parts) und trieb sie auf die Spitze. Für die Fans wie mich, die genau DAS so liebten, die beim ersten Hören von „Invitation“ damals dachten „boah, geil, das ist genau das, was ich immer hören wollte“, dieser „Orchester-Gitarren-Wumms“ ist „mein“ Heavy Metal, für die war „Carry On“ eine Offenbarung.
Ich hatte damals eine Art „Mix-Tape to end all Mix-Tapes“, das die geilsten Songs aller Stilrichtungen enthielt, u.a. auch sowas wie „Hanging Judge“ von Armored Saint oder „Riding the storm“ von Running Wild oder „Tragedy Man“ von Trouble, also völlig durcheinander. Und das wurde mit „Carry On“ eröffnet, würde ich bis heute nicht ändern...
Aber nicht nur der Opener, auch der Rest von „Angels Cry“ ist fantastisch, damals wie heute. Ich kann mich an eine Zeit in den Neunzigern erinnern, als eine ganze Horde Bands aus Italien, Spanien, Südamerika wie ANGRA klangen. Nein, nicht wie HELLOWEEN, sondern wie ANGRA, inkl. André-Matos-Klons auf allen Kontinenten. Diese sehr hohe, aber eben auch irgendwie sanfte, klare Art zu singen, anstatt zu schreien/pressen, war schon etwas Neues damals. Gut, einen Michael Kiske, der das ganze in glasklar und irre laut/kraftvoll kann, gibt es nur einmal, aber anstatt zu versuchen, das nur nachzuahmen und zwangsläufig in Geschreie zu verfallen, entwickelte André Matos einen ganz eigenen, irgendwie verletzlicheren, melancholischeren, verträumten Stil, dem unzählige, vor allem südländische Kollegen folgten.
Trotz seiner gesanglichen Leistung wird mir André Matos immer vor allem als großartiger Komponist und Pianist in Erinnerung bleiben. Mit „Carry On“ hat er sich verewigt, und meiner Ansicht nach war das ganze „Angels Cry“-Album seine Sternstunde. Er konnte kompromisslos umsetzen, was er sich vorgestellt hatte, und er hatte auch die Mannschaft dazu: die Sieges-Even-Rhythmusabteilung, plus quasi gleich zwei brasilianische Gitarrenhelden, besser geht‘s nicht. Aber sicherlich war er damals auch gleichzeitig gesanglich auf dem Höhepunkt, ich erinnere mich gerne an die Aussagen der Produzenten, die ihn überzeugen mussten, teilweise eine Oktave TIEFER zu singen, um das Ganze nicht ausufern zu lassen. Zeigt aber wieder nur, wie unbegrenzt seine Möglichkeiten damals waren. Auch wenn viele gute Alben folgten, so ungebremst und ungehemmt und entfesselt klang keines mehr danach.
Erwähnen muss man sicherlich noch „Holy Land“, das wiederum auf eine ganz andere Art großartig war und die brasilianischen Wurzeln noch stärker betonte, ohne in stumpfes Pseudo-Tribal-Gehopse zu verfallen. Auf dieser Tour konnte ich ANGRA auch live sehen, und ja, man kann auf der Bühne gemeinsam trommeln und trotzdem musikalisch und filigran klingen.
Für mich ist André Matos einer der ganz Großen, der mit seiner Stimme, vor allem aber seinen Songs und Arrangements, ein ganzes Sub-Genre geprägt hat.
Dass ich ihn nie vergessen werde, dafür hat er gesorgt... Carry On, André!