Hier dann in bekannter Form die Zusammenfassung der seit März oder so gelesenen Sachen:
Arto Paasilinna - Der Sohn des Donnergottes
Inhalt: Die finnischen Götter sind besorgt: Im Finnland der Gegenwart glaubt kaum noch jemand an sie. Also wird Rutja, der Sohn des Donner- und Obergottes Ukko, auf die Erde geschickt, um sein Volk wieder zum Glauben zu bekehren. Doch um sich im ausgehenden 20. Jahrhundert zurecht zu finden, braucht er jemanden mit mehr Erfahrung... und landet so bei Sampsa Ronkainen, einem eher erbärmlichen Landwirt und Antiquitätenhandler, der mit Frau, Schwester, Nachbarn und Geschäft völlig verkracht ist. Doch die beiden arrangieren sich, und die Mission gelingt auf eine ganz andere Weise als gedacht, denn das Problem der finnischen Gesellschaft ist nicht etwa der falsche Glaube, sondern eine viel grundlegendere psychische Krise.
Kommentar: Wie schon zuvor erwähnt erinnert hier sehr, sehr viel an das, was Terry Pratchett etwas später so fabriziert hat - also konkret an "Ein gutes Omen" (ohne Weltuntergang), aber auch an diverse Scheibenwelt-Romane, in der göttliche Personifikationen durch ihren jeweiligen Geltungsbereich schritten (also z.B. "Pyramiden" oder "Einfach göttlich"). Hier allerdings wird das alles natürlich durch die spezifisch finnische Brille betrachtet: Der Humor ist entsprechend trocken und lakonisch, die meisten Personen sind in ihrer Selbstzufriedenheit gleichzeitig mürrisch und einsilbig. Davon abgesehen ist die Wendung, die dieser Roman macht, aber schon sehr interessant, denn Fragen nach Religion sind ja eben immer vorrangig die nach der geistig-spirituellen Verfassung des Einzelnen und der Gesellschaft. Und wenn hier am Ende - Spoiler! - die finnische Religion durch eine Mischung aus New-Age-Selbsterfahrung und Psychotherapie erneuert wird, dann ist das auch schon sehr, sehr satirisch und düster - und hilft auch darüber hinweg, dass den Hauptfiguren im Roman ein bisschen der Widerstand fehlt (denn keine der weltlichen Instanzen vom Baudezernat bis hin zum Militär unternimmt ernsthafte Schritte gegen das Wirken von Rutja, Sampsa und ihrem Gefolge).
Orhan Pamuk - Schnee
Inhalt: Der Schriftsteller Ka kommt nach Jahren im Exil in Frankfurt in die ostanatolische Provinzstadt Kars - offiziell, um dort als Journalist über eine Selbstmordserie unter auf das Tragen eines Kopftuchs bestehenden Mädchen sowie über die anstehende Bürgermeisterwahl zu berichten, persönlich aber mit der Absicht, mit seiner früheren Studienfreundin Ipek, der Tochter eines Hotelbesitzers und Exfrau des Bürgermeisterkandidaten zusammenzukommen und sie zur Ausreise nach Deutschland zu bewegen. Doch in der verschneiten Stadt kommen ihm durch den Kontakt mit den provinziellen Lebensrealitäten in eine Glaubenskrise mündende Selbstzweifel, zugleich findet er aber auch seine Inspiration wieder. Als schließlich aber das Militär und ein abgehalfterter Schauspieler die Tatsache, dass Kars durch Schneefall völlig abgeschnitten von der Außenwelt ist, für einen blutigen Putsch gegen konservative, religiöse und kurdische Kräfte nutzen, steht Ka endültig zwischen den Fronten.
Kommentar: Vieles, was sich allgemein zu diesem Roman sagen ließe, steht schon
auf Wikipedia, deshalb belasse ich es mal bei ein paar persönlichen Anmerkungen. Also: Tatsächlich hat mich das an einige andere Sachen erinnert, die ich schon gelesen hatte - zuvorderst an "Die hässlichen Schwäne" bzw. "Das lahme Schicksal" der Strugatzkis, denn die Parallelen sind ja unübersehbar: Eine völlig heruntergekommene Provinzstadt mit merkwürdigem Wetter (hier Dauerregen, dort extremer Schneefall), einem autoritär-korrupten Machtapparat, unberechenbarem Militär, einer aufbegehrenden Jugend und mittendrin natürlich ein innerlich zerrissener Schriftsteller als Protagonist, das ist trotz der offenkundigen Unterschiede einfach frappierend. Aber auch der immer noch nicht ganz ausgelesene Dostojewski ("Die Dämonen", das hatte ich ja für dieses Buch unterbrochen) liegt da nicht fern - gerade das Kapitel, in dem bei Pamuk die verschiedenen Oppositionellen im Hotelzimmer an ihrer gemeinsamen Resolution schreiben, fand sich sehr, sehr ähnlich bei Dostojewski. Auch sonst ist hier das Wechselspiel zwischen konservativen, reaktionären und anarchistischen Kräften mehr als nur vergleichbar.
Einen weitaus eigeneren und sehr interessanten Zug gibt es bei Pamuk dagegen eben mit Sunay Zaim, diesem Theatermenschen, dessen Aufführung tatsächlich den Rahmen für den Putsch bildet. Dieser Charakter wiederum nimmt sich aus meiner Sicht aus wie der Archetyp des "Künstlers", der gerne politisch engagiert wäre, über die Jahre an der Wirkung von Engagement und Botschaften zweifelt... und dann doch die Chance nutzt, tatsächlich irgendwas zu tun, so schäbig und klein das auch sein mag. In diesem Sinne ist Zaim tatsächlich sowas wie der direkte Widersacher von Ka, wenngleich aufgrund der unsicheren Position von letzterem dieser Gegensatz weniger offen ausfällt.
Ansonsten wäre abschließend noch zu bemerken, wie "aktuell" dieses Buch immer noch nicht. Geschrieben wurde es ja 2004, und die geschilderten Ereignisse werden auf die späten 1990er Jahre datiert - trotzdem scheint sich die Situation in der türkischen Provinz seither nicht wesentlich gebessert zu haben, der "politische Islam" ist weiterhin ein brisantes Thema, und das ganze Land, für das hier Kars wohl im Kleinen repräsentativ sein soll, ist weiterhin zerrissen.
Orhan Pamuk - Die rothaarige Frau
Inhalt: Als Cem 15 Jahre alt ist, macht sich sein Vater aus dem Staub, sodass seine Mutter und er auf dem Trockenen sitzen. Im Sommer 1986 gerät Cem daher unter die Fittiche eines Brunnenbauers, der in einer Kleinstadt vor den Toren Istanbuls an einer unmöglich erscheinenden Stelle nach Wasser gräbt. Der Aufenthalt für Cem ist prägend: Erst verliebt er sich im Ort in eine rothaarige Wanderschauspielerin, die ihn schließlich verführt, dann kommt es zu einem Unfall beim Brunnenbau, nach dem Cem den Ort fluchtartig verlässt und seinen Meister verletzt oder gar tot zurücklässt. Jahre später ist Cem ein erfolgreicher, wenn auch skrupelloser Bau- und Familienunternehmer mit einem Tick für ödipale Legenden, als sein Anwalt ihm eröffnet, der Sohn einer alten Schauspielerin behaupte, sein Sohn zu sein...
Kommentar: Der dritte Roman von Pamuk, den ich bisher gelesen habe, und natürlich der kompakteste (und kürzeste). Damit einher geht auch ein trotz der sich über fast 30 Jahre erstreckenden Handlung vergleichsweise überschaubarer Kreis an Figuren und Orten. Trotzdem werden natürlich Motive und Themen erkennbar: Den Ödipus-Mythos und seine persische Entsprechung, die Geschichte von Rustam und Sorab, wurde schon in "Schnee" nebenbei erzählt. Auch Schauspieler, das ausufernde Stadtwachstum von Istanbul, das Wandertheater, verbitterte ehemalige polistische Aktivisten und ganz allgemein der Widerspruch der Türkei zwischen Konservativismus und Moderne wurden anscheinend auch schon in den anderen Romanen abgehandelt (Spoiler: Auch das Detail, dass hier, ebenso wie Necip in "Schnee" widerfahren, jemand am Ende eine Kugel
durch das Auge geschossen bekommt, ist wohl ziemlich verräterisch). Allerdings ist die Geschichte dennoch eben sehr knapp und interessant erzählt, auch weil dem Protagonisten am Ende nicht ungeteilte Sympathie zuteil wird. Und Brunnenbau ist eigentlich auch eine sehr starke Metapher für die Verfasstheit der Türkei: Im Boden liegt schließlich das, was die Geschichte hinterlässt, Traditionen und Triumphe, aber auch Irrtümer, Überkommenes und Schuld. Und zugleich ist Brunnenbau selber auch ein aussterbendes Geschäft...
Fjodor Dostojewski - Die Dämonen
Inhalt: Herrje, wie soll ich hier nur den Inhalt zusammenfassen? Ich versuche es mal so: In einer russischen Provinzstadt des ausgehenden 19. Jahrhunderts versucht Pjotr Stepanowitsch Werchowenski, Revolution zu spielen und den Staatsapparat sowie die lokale Gesellschaft zu unterwandern und zu zersetzen, und spannt dazu auf intrigante Weise die verschiedensten Leute vor seinen Karren: Studenten, Fabrikarbeiter, Sträflinge, niedrige Offiziere, aber auch seinen eigenen Vater, den Literaten Stepan Trofimowitsch, und schließlich gar den Governeur Anton von Lembke und dessen Frau. Ins Wanken kommen diese Pläne allerdings durch das Auftreten von Nikolai Wsewolodowitsch Stawrogin, des Sohns der Gutsbesitzerin Warwara Petrowna, der zwar ungleich ehrbarere Motive vertritt, zugleich aber kaum weniger gewissenaft als Werchowenski agiert und selber hochgradig labil wirkt. Das Zusammenspiel dieser beiden nicht unbedingt verbündeten Kräfte bringt die Situation schließlich binnen weniger Tage zur Eskalation...
Kommentar: Angesichts des Umfangs von über 900 eng bedruckten Textseiten, die zudem eher von Beschreibungen denn von Dialogen oder wörtlicher Rede bestimmt sind, lässt sich natürlich einfach sagen, dass Dostojewski seine Handlung sehr breit und ausufernd erzählt. Das mag langatmig wirken, erfordert viel Konzentration und Ausdauer beim Leser (für mich selber waren pro "Runde" auch kaum mehr als 50 Seiten am Stück drin) und den gelegentlichen Blick ins angehängte (und trotzdem bei einigen Namen noch unvollständige) Personenverzeichnis und lässt gelegentlich auch einige relevante Wendungen oder Charakterzüge schnell mal als unwesentlich erscheinen. Andererseits aber werden so die Persönlichkeiten und Denk- sowie Handlungsweisen der Figuren wirklich bis in alle Einzelheiten ausgeleuchtet. Daneben übrigens sorgt diese Erzählweise aber auch für einen unterschwelligen Humor - Dostojewski scheint sich jederzeit über verkopfte Intellektuelle, blasierte Edelleute, trunkene Taugenichtse, sich ereifernde Möchtegern-Revoluzzer, geizige Bauern und völlig erratische Geistliche zu amüsieren.
Auf der inhaltlichen Seite lag die große Stärke von "Die Dämonen" dann wiederum darin, die Mechanismen einer Verschwörung aufzuzeigen (und in gleicher Weise vollständig zu beleuchten). Konspirative Treffen, im Geheimdruck gefertigte Proklamationen, der unbedingte Glaube aller Beteiligten, für eine "größere Sache" einzustehen (befeuert von den nebulösen Andeutungen, nur eine von vielen revolutionären Zellen im ganzen Land zu sein), kurz gesagt: Der grundlegende Idealismus hinter dieser Bewegung, wird aufs Schärfste kontrastiert mit der grenzenlosen Skrupel- und Kompromisslosigkeit der Verschwörer, die auf diese Weise wiederum auch in gefährlicher Form naiv wirken. Und solche Schilderungen sind es dann auch, die diese Motive wiederum regelrecht demaskieren. Zumal - und das wissen wir auch aus der Geschichte, aber Dostojewski muss das bereits geahnt haben - die tatsächliche Revolution in Russland dann am Ende ein ähnliches Gesellschaftssystem hervorbrachte wie das in einer der prägendsten und bekanntesten Passagen des Romans von Schigaljow ausgemalte. Alleine schon als ausführlicher Kommentar zu seiner Zeit (und der folgenden) ist "Die Dämonen" damit kaum zu unterschätzen. Trotzdem werde ich mich natürlich demnächt eher kürzeren Werken zuwenden.
Leif Randt - Allegro Pastell
Inhalt: Wie es schon der Klappentext nennt: Eine Lovestory aus den 10er Jahren. Jerome Daimler, freiberuflicher Web-Designer, ist mit Tanja Arnheim zusammen, einer aufstrebenden Autorin, und eigentlich läuft für beide das Leben so ziemlich perfekt. Beruflicher Erfolg bei gleichzeitiger Freiheit und Kreativität, ein abwechslungsreiches Privatleben mit Partys, Drogen (aber nicht im destabilisierenden Übermaß), Social Media, Sex und natürlich bewusstem, von Distinktion bestimmtem Konsum im Überfluss. Da verwundert es eigentlich kaum, dass diese Beziehung im Mai 2018 nach einer unbedachten Äußerung einen sehr plötzlichen Knacks bekommt, der das Paar erst mal auseinander treibt. Doch in die Versuche, wieder zusammen zu kommen, grätschen dann einige andere Entwicklungen rein: Hier eine flüchtige Bekanntschaft von früher, die sich nun zurückmeldet, da Knatsch im weiteren Familienumfeld...
Kommentar: Tja, dieses Buch ließe sich sehr leicht verächtlich abtun: Viel passiert eigentlich nicht, denn das Dasein erfolgreicher und voll integrierter Menschen bietet an sich ja eher wenig Raum für Dramatik. Wer sich nur auf die Handlung konzentriert, wird "Allegro Pastell" als ziemlich flach, simpel und oberflächlich empfinden und hier eher - tja - in der Tat eine bloße Lovestory erleben. Aber das ist es wohl auch nicht, worum es hier geht. Eher schon wird - alleine schon durch die Häufung von Lifestyle-Elementen und einem entsprechend "modischen" Slang - eine ansatzweise satirisiche Überspitzung erreicht. Nach dieser Lesart ist es dann eben auch nicht der Roman, der flach, simpel und oberflächlich daher kommt, sondern das darin geschilderte moderne Erste-Welt-Leben in der Wohlstandsblase, das die Protagonisten hier führen. Und das lässt eben alles in einem anderen Licht erscheinen, sodass sich statt Gleichgültigkeit dann doch interessierte Abscheu entwickelt und vielleicht mal wieder klar wird, dass diese Generation unsere Welt sicher nicht verändern wird.