Lost in a lost world – Ein paar Gedanken zu Senjutsu
And when I leave this world
I hope to see you all again
On the other side of hell on earth
Vor 15 Jahren erlebte ich zum ersten Mal die Veröffentlichung eines IRON MAIDEN-Albums bewusst mit, nämlich die von A Matter of Life and Death. Seither kamen drei Alben dazu, und an jeden Release-Tag kann ich mich genau erinnern. Natürlich sind 15 Jahre für Fans, die der Band seit vierzig oder dreißig Jahren folgen, keine lange Zeit, und dennoch: das Leben, die gesamte Welt, haben sich in den letzten 15 Jahren rasant weiterentwickelt. So verbinde ich mit den letzten drei Alben auch bestimmte Lebensabschnitte, durch die mich MAIDEN begleitet haben – manchmal nur im Hintergrund, aber dennoch sind sie die größte Konstante in meiner Sammlung.
Dabei sind die Veröffentlichungen nach A Matter of Life and Death für mich auch rückblickend keine Highlights der Diskografie. Zu The Final Frontier habe ich jahrelang keinen Zugang gefunden, die anfängliche Euphorie war tatsächlich verfehlt. Bei The Book of Souls fiel die Bilanz auf CD 1 positiver aus, doch CD 2 bleibt für mich ein ärgerliches Eigentor, dass einige der schwächsten MAIDEN-Kompositionen aller Zeiten enthält. Vor allem wirkten beide Alben, trotz vieler starker Momente, insgesamt zerfahren und ließen das typische. übergreifende MAIDEN-Feeling stellenweise vermissen. Ich kann mein Empfinden bis heute nicht genauer begründen, aber Tatsache ist, dass ich beide Alben am unteren Ende der Diskografie einreihen würde, lediglich No Prayer for the Dying und (je nach Stimmungslage) Fear of the Dark sind für mich schwächer.
Dabei liebe ich die Post-Brave New World Phase. Es steht außer Frage, dass die ersten sieben Alben MAIDENs Status und ihre historische Bedeutung zementiert haben, aber ohne die Alben ab The X-Factor wäre das Phänomen MAIDEN nur zur Hälfte komplett. Die späteren Alben fügen der Diskografie ein emotionales Fundament und eine Tiefe hinzu, die der frühen Phase fehlen. Nicht dass die Songs zwischen 1980 und 1988 nicht komplex und anspruchsvoll wären, aber es ist die Ernsthaftigkeit, die Erfahrenheit und der emotionale Ballast, der die Alben der letzten 25 Jahre für mich herausragen lässt. Somewhere in Time, The Number of the Beast und Powerslave höre ich beim Autofahren, wenn es etwas zu feiern gibt oder wenn ich bei der Arbeit einen Energieschub brauche. Eine tiefe emotionale Verbindung zum Werk von MAIDEN spüre ich aber erst, wenn ich in die Abgründe von The X-Factor oder A Matter of Life and Death schaue, oder mich von der Atmosphäre von Dance of Death mitreißen lasse. Auf den ersten Alben waren diese Elemente schon in vielen Songs vorhanden. Es liegt auch an der stets unterschwelligen Heaviness und dem Biss, den sich die Band seit 1980 erhalten hat, dass die 1980er-Songs nur in den allerseltensten Fällen die Grenze zum Kitsch überschreiten, obwohl sie eigentlich vor diesem nur triefen müssten. Deshalb wundert es mich auch immer wieder, wie einige Fans selbst No Prayer for the Dying den späteren Alben vorziehen können. Das ist tatsächlich das einzige Album, welches ich auch ganz objektiv als „schlecht“ bezeichnen würde – hier riskierten MAIDEN zum ersten Mal, zur Parodie zu werden und schrammten nur ganz knapp an der musikalischen Bedeutungslosigkeit vorbei. Das Album ist seicht, oberflächlich und schwachbrünstig – kein Vergleich zu den Alben ab The X-Factor.
Eine der größten Stärken von Senjutsu ist für mich, dass das als Album als Ganzes funktioniert, das war zuletzt bei A Matter of Life and Death der Fall. Es gibt eine übergreifende Atmosphäre und ausnahmslos alles Songs versprühen trotz aller Klischees eine Ernsthaftigkeit, die dem Alben wiederum eine gewisse Erhabenheit verleiht. Hier fällt wieder der entscheidende Faktor auf, durch den sich MAIDEN von allen anderen Bands abheben: keine andere Band könnte diese Songs spielen, ohne dass sie wie eine Parodie des Genres wirken würden. Selbst die technisch versiertesten Youtube-Gitarrenhelden oder die beste brasilianische Coverband können nicht ansatzweise die Magie einfangen, die vom Zusammenspiel dieses Line-Ups ausgeht. Trotz der Länge der Songs, der Keyboards und der veränderten Herangehensweise: in ihrem Kern verweisen die Songs stets zurück auf das allererste MAIDEN-Album. Ich kann es nicht anders ausdrücken als mit dem banalsten aller Ausdrücke, aber unterm Strich sind MAIDEN einfach cooler als anderen Bands, und das schließt alle noch so harten Vertreter des „Undergrounds“ mit ein. Kein Bild drückt dies besser aus als das von Steve Harris auf der Bühne. Niemand anders könnte solche Songs performen ohne in die Lächerlichkeit abzudriften. Und doch wirken MAIDEN in ihren 60ern auf Senjutsu weiterhin bodenständiger, ehrlicher, unangepasster und euphorischer als die Konkurrenz. Es ist tatsächlich ihr (und Rod Smallwoods) größtes Kunststück, dass diese Gruppe von Multimillionären, die u. a. auf Hawaii und den Bahamas leben, das Image der East Londoner Arbeiterklasse-Rocker beibehalten konnten. Natürlich muss dahinter ein wahrer Kern stecken, sonst wäre die Band nicht glaubwürdig – und diesen Kern findet man immer noch in den Songs auf Senjutsu. Es ist diese (nicht unbedingt musikalische) Verbindung mit ihren Wurzeln, die MAIDEN meiner Meinung nach von allen anderen unterscheidet. Trotz des kommerziellen Imperiums, das dahintersteckt: wenn die Band auf Senjutsu loslegt, ergreift mich die gleiche Begeisterung, die wahrscheinlich die Zuschauer im Ruskin Arms gespürt haben.
Kein Song drückt die Entwicklung, die MAIDEN seitdem durchgemacht haben, besser aus als „Hell on Earth“. Allgemein finde ich, dass die Lyrics viel zu wenig Beachtung finden in den meisten Reviews. Natürlich gibt es auf den neuen Alben noch die ein oder andere Geschichts- oder Fantasy-Referenz; aber selbst „Stratego“ knüpft textlich trotz der Kriegsthematik an die nachdenkliche und persönliche Ausrichtung seit The X-Factor an. Kein Song bündelt diese verschiedenen Seiten von MAIDEN jedoch besser als „Hell on Earth“, der nach den Ereignissen der letzten zwei Jahre nochmal an emotionaler Schlagkraft gewinnt. Ich gebe zu, dass mich der Song beim zweiten oder dritten Durchlauf komplett zerrissen hat und für mich jetzt schon zu den Highlights der Diskografie zählt. Auch im Hinblick auf das nahende Karriereende der Band (ganz nüchtern betrachtet sind mehr als 10 Jahre als tourende Band nicht mehr drin, und das ist weniger Zeit, als seit The Final Frontier vergangen ist) ist Senjutsu ein würdiges, relevantes Statement geworden - und welche andere Band würde das nach 40 Jahren noch hinbekommen?
Und dennoch ist Senjutsu natürlich nicht makellos: der Titeltrack ist insgesamt etwas zäh, und auch die erste Hälfte von „The Parchment“ hätte man um die Hälfte kürzen können. Außerdem schließe ich mich den Kritikern der Lyrics von „Darkest Hour“ an: MAIDEN haben ihre Britishness immer stolz nach außen getragen, aber nie auf eine solche platte Art und Weise. Gerade im Zusammenhang mit dem Brexit finde ich diese verklärende Sicht auf die Ereignisse sehr enttäuschend – für mich ein textlicher Totalausfall wie damals „Age of Innocence“. Außerdem muss man auch anerkennen, dass die Kehrseite der „Wir ziehen unser Ding durch“-Medaille die Tatsache ist, dass die Band ihre Komfortzone nicht mehr verlässt und Kevin Shirley weiterhin seine Hauptfunktion erfüllt, nämlich die, gerade nicht in den Aufnahmeprozess einzugreifen oder die Ideen der Band in (noch) effektivere Bahnen zu lenken. Auch auf diesem Album kann ich eine dritte Gitarre höchstens erahnen.
Und ja, die Selbstzitate fallen mir diesmal noch etwas stärker als sonst auf, gerade „When the Wild Wind Blows“ wurde gleich mehrfach wiederverwendet. Aber es hilft alles nichts: wenn die Band im Mittelteil von „Lost in a lost world“ oder „The Time Machine“ in die typischen MAIDEN-Melodien übergeht, weiß ich auch nach 15 Jahren wieder: ich bin zu Hause!