"Solaris" (Film, 2002)
Thematik:
Psychologe Chris Kelvin erreicht ein Hilferuf eines alten Bekannten von einer weit entfernten Forschungsstation im Orbit der rätselhaften Welt "Solaris": Seltsame Dinge gehen an Bord vor sich, die sich niemand dort erklären kann; und obwohl das "sinnvollste" Vorgehen wohl die Evakuierung sei, will niemand die Station verlassen, alle Überwachungssysteme sind abgeschaltet, und der Kontakt zur Erde, abgesehen von der besagten Nachricht, wurde abgebrochen; dass jemand anderes als Kelvin erfahre, was genau dort vor sich gehe, ist offenbar unerwünscht, lediglich Kelvin werde aufgrund seines altbekannten Fürsprechers der Zugang an Bord gewährt. Chris Kelvin soll die eigenmächtig in Quarantäne gegangene Besatzung zur Umkehr bewegen; einzig er - aufgrund seiner persönlichen Erfahrung - sei "der Richtige" dafür...
Zunächst noch zögerlich, schließlich dann doch - anscheinend aufgrund alter Verbundenheit - willigt Kelvin ein, nach einer kurzen Einweisung als Orbit-Astronaut, sich auf diese ominöse Reise ins Unbekannte zu machen, die irgendwie auch mit seiner Vergangenheit zusammenzuhängen scheint...
Von einem zuvor ausgesandten "Sicherheitsteam" fehlt jegliche Spur.
Das alleine könnte als Kammerspiel in einem abgeschotteten Sci-Fi-Setting für eine gehörige Portion an Mystery-&-Horror-Thrill sorgen.
Literarischer Hintergrund:
Der Roman "Solaris" von Stanisław Lem, auf dem dieser Film beruht, ist jedoch weitaus mehr als bloß die Geschichte eines Psychologen, der auf unbekanntem Terrain einen Lagebericht über den unklaren Zustand einer von aller Kommunikation abgekapselten Raumstation abfassen soll, ohne zu wissen, ob er es dabei mit inneren oder äußeren Bedrohungen zu tun hat.
Neben die Analyse von (möglichen, indiziengestützten) Verhaltensweisen der Crew tritt im Roman auch der professionelle Skeptizismus des Psychologen Kelvin seiner eigenen Wahrnehmung gegenüber, die ja ebenfalls von "Solaris" manipuliert werden könnte.
Dabei widmet sich Lems Buch auch auf theoretischer Ebene - und zwar mittels innerer Dialoge seines Protagonisten auf psychologische und philosophische, also mithin erkenntnistheoretische Weise - Fragen nach dem menschlichen Erkenntnishorizont unter Normal- wie Extrembedingungen, Fragen nach dem menschlichen Drang zu Erklärungen & zur Vermeidung kognitiver Dissonanz, Fragen zur ambivalenten Einstellung von Menschen gegenüber dem Fremden (von naivem Interesse, über Beherrschungswut bis hin zu Furcht und Aggression).
Zum anderen porträtiert Autor Lem bereits im Vorfeld auch auf soziologische und sozialpsychologische Weise den irdischen Wissenschafts-Betrieb: So präzise wie satirisch schildert er dabei zwischenmenschlichen Eitelkeiten und berufliche Konkurrenzen, Verständnis- und Kommunikationsprobleme zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Paradigmen, sowie die allgemein menschliche Hybris eines Glaubens daran (oder auch nur der Hoffnung darauf), jemals ein final abgeschlossenes Weltbild erreichen zu können.
Er gibt dafür gewissermaßen einen historischen Abriss der Entwicklung eines eigenen, interdisziplinären Wissenschaftszweigs namens "Solaristik" und stellt dabei dessen verschiedene Denk-Schulen sowie deren immer wieder an Widersprüchen und Erklärungslücken scheiternde Forschungsansätze vor.
Film-Umsetzung:
Diese im Roman ausführlich geschilderte Vorgeschichte der "Solaristik" blendet Steven Soderberghs Film komplett aus - und weitgehend auch die inneren Monologe Kelvins, mit deren Hilfe er (quasi als sein eigener Supervisor) sich selbst zu vergewissern versucht, ob er noch analytisch klar denken und methodisch korrekt zu arbeiten vermag, oder ob er womöglich die nötige innere Distanz verloren hat, sich manipulierbar macht oder gar bereits Opfer von Illusionen, Täuschungen oder Wahn geworden ist.
Statt dessen liegt Soderberghs Fokus des Films auf den Entdeckungen Kelvins beim Sichten von Bild/Ton-Aufnahmen der Crew sowie seinen Versuchen, womöglich verbliebene Crewmitglieder zu kontaktieren, mit ihnen zu kommunizieren, sowie deren (authentisches oder vorgebliches?) Verhalten und Innenleben zu interpretieren, um die Ereignisse an Bord rekonstruieren bzw. spekulativ auf Wahrscheinlichkeiten hin evaluieren zu können.
Durch das Unwissen des Publikums bezüglich des ursprünglichen Auftrags der "verschollenen" (bzw. sich selbst abgeschottet gesetzt habenden) Orbit-Crew bleibt auch völlig offen, inwieweit ein Abweichen von diesem Plan möglicherweise existenzielle Folgen haben könnte.
Was wird hier gespielt?
Und was ist Kelvins Rolle darin?
Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der ersten Hälfte des Films, der sich dadurch in erster Linie als psychologischer Thriller in space entpuppt. Bereits kurz nach dem Andocken an die Raumstation offenbart sich, dass Kelvins alter Bekannter mittlerweile verstarb und ein weiteres Crewmitglieder einen offenbar sogar Gewalt involvierenden Tod starb.
Durch schier unglaubliche Berichte über "Gäste" an Bord, sowie durch den nachfolgenden Verlust weiterer Crewmitglieder im weiteren Verlauf der Handlung, steigt die Spannung stetig an. Und auch Kelvin selbst scheint schließlich "Gespenster" zu sehen...
All dies, insbesondere psychische Ausnahmezustände, inszeniert Soderbergh seltsam distanziert, in weitgehend ruhigen Bildern, vor einer völlig sachlich, kühl und weitgehend steril wirkenden, nahezu ausschließlich aus Glas und Stahl (und einigen glatten Synthetikoberflächen) bestehenden Kulisse, in der selbst die leicht faltenwürfigen Kunststoffe der Weltraumkleidung wie Fremdkörper wirken, was das Publikum um so mehr auf die Gesichter der seltsam agierenden, mal nahezu katatonisch ausdruckslos, dann wieder panisch erregt wirkenden Personen einerseits, und andererseits auf nur ganz wenige übrige Hinweise auf den Charakter fremder (oder doch nur eingebildeter?) Präsenzen an Bord zurückwirft, die - wie sich nach und nach erweist - irgendwie mit tief vergrabenen Erinnerungen der Protagonisten in einem völlig unklaren Zusammenhang zu stehen scheinen.
Der in "Solaris" von Steven Soderbergh inmitten eines Mystery-Kammerspiels inszenierte psychologische Horror kommt, wenn auch nicht subtil, so doch eher indirekt zum Tragen: Das Grauen und auch die offenkundige Verstörtheit, die sich in der Gestik und Mimik der Protagonisten ausdrücken, sind es, die uns als Zuschauer*innen mittels Empathie immer tiefer in den Sog eines für Kelvin nach und nach persönlicher werdenden Mysteriums hineinziehen - und an den Absichten der übrigen Beteiligten doch auch immer wieder zweifeln lassen; klar ist: Sie verbergen etwas - aber dafür mögen Sie durchaus gute Gründe haben. Dennoch muss Kelvin hinter diese Gründe steigen, will er sich nicht selbst in seinen eigenen Dämonen verlieren.
Gesamteindruck:
Stanisław Lem meinte sinngemäß einmal, von einem Hollywood-Drehbuch sei nicht mehr zu erwarten, als dass es seinen Roman sinnentstellend auf eine flache, sentimentale Romanze in space reduziere.
Man könnte, wenn man böse ist, Soderberghs "Solaris" eine ähnliche Kritik angedeihen lassen; insbesondere das transzendentale "happy ending" wirkt aufgesetzt und kitschig - etwas, das man von Lems Roman nicht wirklich behaupten kann.
Allerdings bietet auch Soderberghs Film einige Anstöße, sich Gedanken über die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit, "wahre Erkenntnis" über unsere Welt zu erheischen, bzw. über unsere Wahrnehmung des/der Anderen zu machen: Was sind unsere Erinnerungen, wenn nicht Interpretationen vorangegangener Erfahrungen im Lichte neuer Erfahrungen? Was davon ist wirklich echt? Wie echt sind unsere Beziehungen, wenn wir darauf - und auf unser Gegenüber - doch auch immer projezieren, was wir gerne sehen möchten, oder wovor wir uns insgeheim fürchten? Was blenden wir dabei aus, können wir wirklich die Wahrnehmung unseres Gegenübers nachvollziehen? Ist eine Kommunikation mit dem Unbekannten überhaupt möglich, oder konstruieren wir - durch explizite oder implizite Aushandlungen - doch immer nur fragile "Zwischenwelten", die sich im Rückblick stets als falsch entpuppen können, ohne dass wir überhaupt je wissen könnten, was nun wahr gewesen ist? Und (wie) können wir mit unseren Fehleinschätzungen umgehen? Kann es nach einer Krise einen Weg zurück zu einer alten Stabilität geben, oder können wir bloß vergessen und vergeben und uns für etwas gänzlich Neues öffnen? Haben wir eine Wahl, oder glauben wir bloß daran? Wie "echt" ist unsere Selbstreflexion, mittels der wir uns über andere Wesen zu erheben meinen?
Wenn man all das ausblendet, bzw. erst gar nicht hineinliest in den Film, weil man Lems Roman womöglich gar nicht gelesen hat oder den Film eher at face value nimmt - was bleibt?
Ein etwas kryptischer, nicht nur im detektivischen Sinne stark verrätselter Film, der äußerst langsam erzählt ist, einige Haken schlägt, nicht wirklich tief in seine Nebenfiguren eindringt, und der einen nahezu schlafwandelnd wirkenden George Clooney als Chris Kelvin dabei zeigt, wie er vor einem riesigen Rätsel steht, während er sich die meiste Zeit davon ablenken lässt, über vertane Lebenschancen, Schuldgefühle und Fluchtversuche nachzusinnen, und sich möglicherweise selbst dabei verliert - oder aber Erlösung findet. So genau weiß man das am Ende auch nicht...
Stilistisch haben wir es hier quasi mit dem Gegenteil eines flachen Schockers wie "Event Horizon" zu tun: Wer diese Art von Space-Horror erwartet, könnte weiter wohl kaum daneben liegen.
Eher mutet Steven Soderberghs "Solaris" wohl wie eine Mischung aus dem älteren "Flatliners" und dem späteren "Moon" an; will heißen: Bedingung für einen Genuss des Films sind die Bereitschafr und das Vermögen des Publikums, sich empathisch auf Protagonisten einzulassen, die eher distanziert geschildert werden, und sich gewissermaßen selbst in die Leerstellen des Films einzusetzen.
Ähnlich wie in "Moon" ist hierbei das als existenziell vorgestellte Kammerspiel-Setting inmitten einer potentiell lebensfeindlichen Außenwelt.
Ähnlich wie in "Flatliners" haben wir es mit sich manifestierenden "Altlasten" der Protagonisten zu tun, mit denen sie inmitten einer fremden, bedrohlichen "Zwischenwelt" umzugehen lernen müssen, wobei gar nicht sicher ist, was die jeweiligen Konsequenzen sein könnten. Atmosphärisch jedoch steht eine klare Bedrohung im Raum.
Schauspielerisch brillieren hier neben George Clooney ("Ocean's Eleven", "The American") als Chris Kelvin, Natascha McElhone ("Ronin", "Die Truman Show") als dessen verflossene Freundin Rheya, Jeremy Davies ("Der Soldat James Ryan", "Teknolust") als Snow und Viola Davis ("Suicide Squad" & "The Suicide Squad") als Gordon. In einer kleineren tragenden Rolle ist Ulrich Tukur ("Das Leben der Anderen", "John Rabe") zu sehen.