Welche Scheibe läuft jetzt? Teil VIII

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Afsky - Om hundrede år
 
Glaub' ich sofort! Klingt schlüssig, nachvollziehbar, erlebbar.
Da fehlt mir gewissermaßen diese Art von Kontext - ich bin Kind einer Stadt mit ein paar 100k Einwohnern im Ballungsraum, kein Hotspot, ziemlich exponiert, die nächste wirklich große, sofortigst in den ersten Zügen durchgentrifizierbare/gentrifizierenswerte Großstadt 200 km weg (Wien, wo ich aber davor auch ein paar Jahre gelebt hab' - insofern: I get it, auf irgendeine Art und Weise); hier kam diese Zeit erst deutlich später an, natürlich rollt die Welle auch hier inzwischen bzw. ist voll da, wenn auch natürlich hauptsächlich eine andere Klientel als dort zuzieht, die Uni und die paar Hochschulen hier sind vergleichsweise klein, usw.
Ich lese sowas aber supergern, denn erlebt hat sowas ja wohl jede*r schon mal - Musik, die einfach ultimativ Atmosphäre und Zeitgeist einfängt und verarbeitet von Künstlern mit Bezug zu diesem Landstrich und gekoppelt mit dem eigenen Erleben ein großes Ganzes ergibt. Immer auf seine Art wunderbar, selbst wenn's sich nicht mit dem eigenen Empfinden deckt oder man die Musik nicht geil findet. (Oder beides nicht.)
Naja, langer Rede kurzer Sinn: daher kickt bei mir das zweite Album mehr. (Damals Indie Rock hörender Mittzwanziger in einer Lebensumbruchphase, Musik mit vielen Hooks, geile Texte - also rein ausm persönlichen Erleben heraus.) Das erste Album find' ich aber auch über weit(est)e Strecken gut, hab' das auch schon gehört bevor die "Von hier an blind" rauskam.
Danke für deinen Beitrag, ich freu' mich immer über sowas :)

Schwierig zu vergleichen.
Irgendwie. Wien hat eine andere Philosophie, so ich weiß - die haben das Problem mit bezahlbarem Wohnraum besser gelöst als in Deutschland. Bilde ich mir zumindest ein, anhand von dem was ich gehört und gelesen habe.
Anyway. Berlin war Ende Neunziger/Anfang Nuller noch immer dieses Ding mit der Lücke mitten durch die Stadt - und diesem grauen, vollkommen heruntergekommenen Ost-Teil. Der war gefährlich, weil da Spannungen geherrscht haben. 1997 bis 2010 kam eine enorme Sanierungswelle über die Stadt, Baustellen, lärmende Arbeiter, Betonmischer, Schuttmulden, knatternde Ost-LKWs und Gerüste überall. Auf einmal waren die ganzen Brachen weg, umzäunt - von einem Tag auf den anderen. Du bist ein paar Wochen weg gefahren, an der AVUS, Dreilinden Richtung Süden getrampt... Als du wiedergekommen bist, war der Künstlergarten an der Spree auf der Halbinsel fort, samt dem Hippie der dort die geilsten Steinofen-Pizzen gebacken hat, die es je gegeben hat. Die alte Glasfabrik mit dem Club drin, von dem keiner wusste ob die Druffis an der Bar eine Lizenz zum Trinken haben oder nicht: Weg. Leergeräumt. Der Vietnam-Imbiss im Eckhaus, wo sonst nur Punks und Proberäume in alten DDR-Zweiraumwohnungen waren... Zu! Bauzaun davor. Arbeiter: "Jeh jefälligst wech hia, sonst jibbet wat auffe Schnauzze!"

Die ganzen Lost Places, diese nur noch halb intakten DDR-Fabriken, VEB-Betriebe, die als Kulisse und Inspiration gleichzeitig herhalten mussten, während man vier Ruinen weiter für billiges Geld gewohnt hat... Überall machte sich eine Unsicherheit breit: Wie lange kann man hier noch unbeschwert wohnen, kreativ sein... Unsicherheit hat noch mehr Kreativität erschaffen. Kunst war ein Ventil: Es musste raus...
Über allem thronte irgendwie Radio Fritz und Radio Eins, beide aus dem ehemaligen DT 64 hervorgegangen, wo so Gestalten wie Peter Radszuhn, Marion Brasch, Jürgen Kuttner, also Urgesteine aus der (subversiven) DDR-Musik und Theaterlandschaft Radio gemacht haben. Es war ein Mix aus Aufbruchstimmung und festhalten an dem, was untergegangen war. Nein, falsch, es war der Versuch dieses kreativ vollkommen überladene, ständig explodierende Vakuum aufrecht zu erhalten.
Dazu kamen Bands, die damals aus jedem Rahmen gekippt sind: Wir Sind Helden, Zweiraumwohnung, Stereo Total, Mia und viele viele andere... 36 Grad und es wird noch heisser. Das war kein früher Song über den Klimawandel, das war das köchelnde Grundgefühl in den langsam verschwindenden Ruinen der Stadt, genauso wie die brodelnde Unsicherheit.
Berlin war damals ein Mitmach-Abenteuerspielplatz, nicht dieses All-Inclusive-Event-Kaufhaus, dass es heute leider geworden ist.
 
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