Der übliche Senf.
Sofi Oksanen - Fegefeuer
Inhalt: Wenn diese Geschichte - anders als im tatsächlichen Roman - in der chronologisch richtigen Reihenfolge erzählt wird, dann ist sie ebenso übersichtlich wie banal: Im Estland der Spät-1930er verguckt sich die junge Aliide in den stattlichen Hans, aber der bandelt lieber mit Aliides Schwester Ingel an. Aliides Versuche, das sich anbahnende Ehe- und Familienglück zu stören, werden durch sowjetische Besatzung und Weltkrieg nur hinausgezögert, aber als Hans nach dem Krieg als Waldbruder-Partisan den Kampf weiterführt, eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten, die Ingel und Tochter Linda in die Verbannung nach Sibirien führen, aber Aliide in die Arme von bzw. die Ehe mit Parteifunktionär Martin treibt - und darüberhinaus Erniedrigung, Folter und Vergewaltigung bedeuten. Viele Jahre später ist Estland wieder unabhängig, als die mit dem Versprechen von Geld und Wohlstand aus Wladiwostok in den Westen gelockte, aber dort nur in die Zwangsprositution under der Knute ehemaliger KGB-Offiziere geratene Zara auf Aliides Hof aufaucht - und einige Erinnerungsstücke zeigen: Es handelt sich um Ingels Enkelin.
Kommentar: Ach, der Feuilleton war damals (2010) voll von diesem Roman, aber es lässt sich in der Rückschau ahnen, dass dieses Buch damals eigentlich nur deshalb hochgejazzt wurde, weil es damals offenbar schier unglaublich schien, dass eine vergleichsweise junge (!) Frau (!!) aus einem als provinziell geltenden Kleinstaat (!!!) mit Dreadlocks (!!!!) in der Lage war, so ein ernstes, historisches Thema zum Inhalt eines recht ausgiebigen, tiefschürfenden Romans zu machen. Das verrät uns natürlich weitaus mehr über die Fallstricke des hiesigen Literaturbetriebs als über die tatsächlichen Qualitäten von "Fegefeuer", zu denen damals auch nur Platitüden wie "erzählt von der Beziehung zwischen Frauenkörper und Staatsgewalt" oder so geschwafelt wurden. Denn im Kern geht's hier ja eigentlich nur um eine boshafte Enttäuschungs- und Rachegeschichte mit äußerst negativen Konsequenzen auch für die Rächerin selber, wobei letztere natürlich durch das politisch-historische Gefüge mitgeprägt werden. Aber, wie gesagt: Im Kern ist die Geschichte eben recht simpel allenfalls durch einige Seitenblicke auf den europäischen Transformationsprozess um 1990 interessant - anderes dagegen wie z.B. die bei einem von 1938 bis 1992 reichenden Handlungsrahmen in diesem Szenario offenbar unvermeidliche Tschernobyl-Episode, die hier rüberkommt, als sei sonst zwischen 1950 und 1990 nichts weiter von Belang in der Welt passiert, wirkt einfach nur sehr gezwungen und aufgesetzt.
Frank Goosen - So viel Zeit
Inhalt: 25 Jahre nach dem Abitur ist die einstige Clicque aus Bulle, Rainer, Konny und Thomas längst im Leben angekommen und in arrivierte Jobs als Steuerberater, Onkologe oder Lehrer aufgestiegen, aber diese Existenz zeigt in Gestalt von Seitensprüngen, Ehekrisen, Scheidungen, ersten Anzeichen von Alter und Krankheit oder gar Todesfällen wiederum längst Risse. Und vor allem ist da die Langeweile über - buchstäblich - so viel Zeit. Was tun? Klarer Fall: Die Herren mittleren Alters versuchen es doch noch mal - und stellen eine 70er-Rock-Coverband namens Mountain Of Thunder zusammen. Die aber erst durch den Einstieg von Ole komplettiert wird, dem coolsten von damals, der seinerzeit durch tragische Umstände gänzlich aus diesem Umfeld herausgeworfen wurde und auch heute nicht so ganz in diese Welt zu passen scheint. Aber doch: Zusammen rockt der Fünfer seine Welt und setzt neue Kräfte frei.
Kommentar: Keine ganz große Geschichte, die Frank Goosen hier erzählt, aber wieder mal durchaus herzerwärmend und vor allem optimistisch. Dabei zahlt sich einmal mehr aus, dass Goosen hier keine Figur in den Mittelpunkt stellt, sondern den Blickwinkel kapitelweise verschiebt, was ebenfalls eine nette Dynamik in die Erzählstruktur bringt - und zugleich eben allen Figuren die nötige Tiefe verleiht. Die nostalgischen, aber nicht verklärenden Rückblicke auf die Jugendzeit der Hauptfiguren und auf das, was damals gegen alle Widerstände zumindest möglich schien, gehören ansonsten ja ebenfalls zu den immer wieder und somit unerschöpflich zu verhandelnden Themen in der Literatur. Ansonsten gibt es hier noch den durchaus auch auf dieses Forum hier passenden "Soundtrack", der sich - relativ untypisch für den ansonsten ja eigentlich eher im Indie-Bereich angesiedelten Goosen - ausgiebig bei Rainbow, Deep Purple, Whitesnake, AC/DC & Co. bedient (sogar Jens Johanssons erste Band Silver Mountain finde eine kleine Erwähnung).
Übrigens hat der eventuell zu diskutierende Punkt, ob es denn unbedingt sein müsse, dass Mountain Of Thunder unbedingt - und augenscheinlich auch ohne weitere Ambitionen - als Coverband durchstarten, vielleicht auf folgende Weise seine Bewandnis: Wenn es primär darum geht, sich auf die Stimmung dieser alten Zeiten zu berufen, dann ist es womöglich besser, es bei den Originalen von damals zu belassen, anstatt es auf Biegen und Brechen unbedingt selber machen zu wollen. Denn was besseres könnte dabei ja kaum herauskommen - oder?
Hanns-Josef Ortheil - Die Erfindung des Lebens
Inhalt: Ein gewisser Johannes berichtet rückblickend von seinem Leben, vor allem natürlich von den prägenden Jahren als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener. Am Anfang steht das Trauma, in der Nähe seiner nach dem Verlust seiner vier älteren Brüder völlig stumm gewordenen Mutter ebenfalls ohne Sprache aufzuwachsen und sich in der Schule entsprechend ausgestoßen zu sehen. Über Klavierspiel und durch die Anleitungen seines Vaters, sich an den Namen der Dinge der realen (ländlichen) Umgebung zu orientieren, findet Johannes so dennoch zur Sprache. Der nächste Schritt im Lebensweg ist das Klavierspiel: Gefördert durch einen recht kompetenten Lehrer, allerdings mit einem letztlich aufgrund der räumlichen Trennung und durch aus stilistischen Gründen aufkommende Zweifel abgebrochenen Internatsaufenthalt, wird Johannes zu einem überaus begabten Pianisten. Nach dem Abitur überkommt ihn eine plötzliche Sehnsucht, nach Rom zu ziehen - und aus dem ursprünglich bloß als Urlaub gedachten AUfenthalt wird Liebe, und aus Liebe schließlich ein aussichtsreiches Studium am Konservatorium. Das dann aber wiederum aufgrund einer hartnäckigen Sehnenscheidenentzündung im Debakel und der Rückkehr in die rheinische Provinz endet. Aber auch hier gibt es - just angeregt durch den anfangs enttäuschten Klavierlehrer - eine Lösung: Johannes, der sich die Welt durch Wörter erschlossen hat, wird Schriftsteller und gewinnt schließlich den (namentlich nicht benannten, aber angesichts der Verortung am Wörthersee natürlich definitiv zu erkennenden) Bachmann-Preis. Das alles berichtet uns Johannes selber viele Jahre später in der Rückschau, als er diese Biografie just in Rom niederschreibt, nebenher noch mit der just getrennten Nachbarin anbandelt und durch den Klavierunterricht für deren Tochter auch doch noch zu seinem großen, öffentlichen prominenten und virtuosen Konzert in Rom kommt.
Kommentar: Scheint ganz so, als hätte Ortheil hier eine leicht bis gar nicht fiktionalisierte Autobiografie geschrieben. Das ist vom Ablauf her auch nicht uninteressant, hat aber einen ganz, ganz schwerwiegenden Nachteil: Die Art und Weise, wie die Geschichte hier präsentiert wird, hat so etwas unglaublich egozentrisches, selbstgefälliges und -gerechtes an sich, dass es einen direkt anwidern könnte. Hieraus ergeben sich dann auch noch weitere Schwächen: Sämtliche neben dem Erzähler auftretenden Figuren haben kein Eigenleben, sondern sind eigentlich nur durch ihren Einfluss auf den Erzähler und das direkte Einwirken auf seine Entwicklung hin zu einem - genau so stellt er sich hier dar - Übermenschen ohne Hemmungen, Bedenken oder Selbstzweifel überhaupt von Belang. Ebenso bezeichnend für diese unerträgliche Ichbezogenheit des gesamten Buchs ist entsprechend auch der Umstand, dass die Umwelt in Gestalt zeitgeschichtlicher Dinge ebenfalls keine Rolle spielt. Der Weltkrieg? Ja, da sind halt zwei Brüder gestorben, aber sonst ist er unwichtig. Die Zeit? Die vergeht halt, damit ich älter, reifer und besser werde.
In Bezug auf die Selbstgerechtigkeit schlägt "Die Erfindung des Lebens" somit sogar noch Benjamin Stuckrad-Barres "Panikherz", obwohl es in Ortheils Vita eigentlich weniger viele schlimme Dinge gibt, die in irgendeiner Weise zu beschönigen gewesen wären. Zu diesem Mangel trägt dann zweifelsohne auch der grüblerische, langatmige Erzählstil bei, der sich viel auf die Ausbreitung von Gedanken, (im Übrigen klägliche) Versuche des Beschreibens von Gefühlen und Empfindungen, an sich selbst gerichteten Fragen und indirekter Rede einbildet, damit im Endeffekt aber nur dick aufträgt, mäandert und ohne jegliche Pointierung oder Ironie nur noch altklug daherkommt. In Summe ist "Die Erfindung des Lebens" für mich also primär ein Ärgernis, eine Anmaßung gewesen, das ich - soviel war im Prinzip schon nach den ersten 20-30 Seiten klar - am Ende eigentlich nur noch aus Katastrophentourismus zu Ende gelesen habe.
Christian Kracht - 1979
Inhalt: Der namenlose Erzähler, ein Innenarchitekt, stromert im titelgebenden Jahr mit seiner Hassliebe von Kumpel erst durch den Iran, wo letzterer im Zuge von Khomeinis Revolution zu Tode kommt - aber nicht durch jene, sondern durch Drogenexzesse auf dubiosen Parties. Seiner Ankerperson beraubt, folgt der Erzähler stattdessen dem Rat einer Zufallsbekanntschaft, nach Tibet zu gehen und als Pilger den heiligen Berg Kailash zu umrunden. Das gelingt auch, aber just danach greift die chinesische Armee zu und verfractet den Protagonisten in ein Umerziehungs- und Arbeitslager. Das war's dann auch schon.
Kommentar: Recht knappe Kost von Kracht diesmal - das Ding ließ sich in knapp zwei Stunden durchlesen. Es lohnt sich aber natürlich trotzdem, die Erzählung ist lakonisch bis zum Äußersten und schafft es gerade deswegen, bleibende Eindrücke zu hinterlassen. Inhaltlich dagegen ist das Material vergleichsweise schwere Kost, werden hier doch zum Einen so einige menschliche Verfehlungen der letzten 50 Jahre in geraffter und somit konzentrierter Form dargeboten - und das ganze dann zum Anderen auch gleich noch dem schon aus "Faserland" bekannten westlichen Hedonismus gegenübergestellt, der auf diese Weise sogleich wieder in seiner ganzen spirituellen Leere entlarvt wird. Die Mischung - Khomeini, Hinduismus, Throbbing Gristle, Dada und "Die Worte des Vorsitzenden Mao Zedong" auf 180 Seiten vereinigt - ist aber trotzdem schon ziemlich bizarr. Sowas Exzessives hat Kracht umgekehrt seither eigentlich auch nicht mehr geschrieben.
Heinz Strunk - Es ist immer so schön mit dir
Inhalt: Der (schon wieder) namenslose Erzähler lebt als Betreiber eines auf Sprachaufnahmen spezialisierten Tonstudios eher ziellos in den Tag hinein. Seine Beziehung mit der Mathelehrerin Julia ist erschreckend öde geworden - doch auf der Premierenfeier eines drittklassigen Films trifft ihn der Schlag in Gestalt der Chargendarstellerin Vanessa, in die er sich Hals über Kopf verliebt. Und diese Liebe wird unvorstellbarerweise sogar erwidert, und angesichts der - zumindest auf den ersten Blick - überraschend reibungslosen Trennung von Julia scheint dem Glück eigentlich nichts im Weg zu stehen. Doch so einfach ist das nicht: Vanessa hat doch so einige Ticks, und die allfällige Passivität der Hauptfigur, die sehr vieles denkt, aber unausgesprochen lässt, stellen dann alles auf eine gewaltige Probe.
Kommentar: Eher ungewohnte Wege beschreitet Strunk hier - verglichen mit diesem durchaus gesicherten Setting ist das, was sonst in seinen Romanen passiert, purer, chaotischer Existenzkampf. Wobei: Ganz grob gesagt ähneln Tonfall und Milieu dann doch etwas, das Strunk schon mal vorgestellt hatte, und zwar "Die Zunge Europas". Wie dem auch sei, der Effekt ist jedenfalls der, dass Strunk mit diesem Rahmen überraschenderweise zu einem recht leichten Stil und Tonfall mit ziemlich feiner Ironie anstelle der sonstigen groben Anarchie findet. Man könnte meinen, Strunkt wäre hiermit in irgendeiner Weise ausgewhimpt oder hätte sich sonstwie an den Mainstream angepasst. Dem allerdings stehen immer noch einige herrlich bizarre Einfälle gegenüber - so etwa der in keinem Bezug zur sonstigen Handlung stehende Kroatienurlaub der Hauptfigur mit einem (auch sonst nicht in Erscheinung tretenden) Schulfreund. Und nicht zuletzt wendet sich das Blatt, sobald die Dinge zwischen Mr. X und Vanessa auch nur um ein Jota aus dem Ruder laufen. Mit den Schilderungen, wie Menschen sich gegenseitig Kontrollzwängen zu unterwerfen versuchen, wird es dann ganz schnell hässlich und böse. Und die sonst so heitere Stimmung bekommt ernsthafte Kratzer.