Dem Beispiel von FallenIdol im Iron Maiden Thread folgend:
Bruce Dickinson – The Chemical Wedding
14. Juli 1998
Bruce Dickinson - Vocals
Adrian Smith - Guitar
Roy Z - Guitar & Keyboards
Eddie Casillas - Bass
Dave Ingraham - Drums
Arthur Brown - Spoken Words
Produzent: Roy Z
Studios: Sound City Studios, Los Angeles
Dicke & clevere Eier, die tief hängen. Das beste Maiden Album, das Maiden nie gemacht haben. Bruce war in der bequemen Position, sich in den 90ern musikalisch auf vielfältige Weise auszutoben und Pfade zu beschreiten, die mit Maiden oder Heavy Metal allgemein nicht mehr viel zu tun hatten. Nach seinen Alternative / Grunge Ausflügen mit Skunkworks besann er sich wieder auf seine Wurzeln und tat sich mit der Band Tribe Of Gypsies zusammen, deren Mastermind Roy Z an der Gitarre eine musikalische Symbiose zwischen Tony Iommi und Dave Murray zu vollziehen wusste. Als wäre das nicht genug, holte man sich als zweiten Gitarristen niemand Geringeren als Adrian Smith mit an Bord. Accident Of Birth schlug 1997 bereits ein wie eine Bombe und sein Nachfolger, das großartige Konzeptalbum Chemical Wedding konnte es in Sachen Härte und Düsterniss sogar noch toppen. Ich habe das Album recht zeitnah gekauft, diesmal nicht beim allmächtigen Bottroper Karstadt, sondern in der noch allmächtigeren CD-Galerie in der Bottroper Altstadt, unweit des Rathauses. Dieser Laden ging Ende der 90er leider baden, hatte aber ein exquisites Sortiment. Heute ist dort ein Gardinengeschäft drin.
Ich war neugierig, was Bruce so ohne Maiden musikalisch machen würde. Das Album Accident Of Birth war mir damals noch nicht bekannt und ich wusste auch nicht, dass Adrian an Bruce Seite die alten Zeiten wieder heraufbeschwören würde. In der CD Galerie waren nur die Alben Skunkworks und Chemical Wedding vorrätig. Letzteres sah mir sehr viel mehr nach Metal aus, als Skunkworks und da ich damals von Maiden mit Blaze sehr enttäuscht war und erst später meinen Frieden damit machen konnte, konnte ich nicht widerstehen.
Das Coverartwork „Ghost Of A Flea“ stammt vom großartigen künstlerischen Multitalent William Blake – seines Zeichens Dichter, Schriftsteller, Kupferstecher und Maler im 19. Jahrhundert. Ein exzentrischer Zeitgenosse Goethes, Romantiker und Mystiker mit Hang zum Übernatürlichen. Bruce hat mit Chemical Wedding ein Konzeptalbum aufgenommen, das sich ausschliesslich dem lyrischen Werk Blakes widmet. Was Blake für ein visionäres Genie gewesen ist, war mir damals nicht klar, aber heute kann man sich durchaus vorstellen, welchen Einfluss Blake ein ganzes Jahrhundert später auf die Beat Poets oder auch Jim Morrison gehabt haben muss. Sie verhalfen Blake zu einer posthumen Renaissance, da er zu Lebzeiten wie viele Künstler einfach vollkommen verkannt war. Die Musik der Doors oder auch Filme wie Dead Man von Jim Jarmusch wären ohne das Nachwirken von Blakes Gedichten kaum möglich gewesen. Wie stark auch Bruce Dickinson von Blake inspiriert wurde, kann man nur sehr vage erahnen, zumindest was sein Schaffen bei Maiden anbelangt. Ich glaube, Revelations, aber auch Moonchild sind voller ganz dezenter Anspielungen auf einige Blake Zitate. Auch der Song „Paschendale“ von der Dance Of Death hat ein direktes Blake Zitat in seinen Lyrics „cruelty has a human heart...“
Nun schlachtet Bruce auf sehr geschmackvolle Weise das Werk von William Blake aus und packt es in Musik mit dicken Cojones. Wer sich mal mit dem Werk von William Blake befassen möchte, dem empfehle ich dringend die Zweisprachige Ausgabe aus dem dtv Taschenbuch Verlag: "
Zwischen Feuer und Feuer - Poetische Werke"
1. King In Crimson ist härter und brutaler, als Alles, was Maiden jemals mit und ohne Bruce gemacht haben. Ein massiver Schädelklopper, der einem direkt eines auf die Glocke haut. Bevor Bruce Dickinson zu singen beginnt, glaubt man fast, es mit einem Death Metal Song zu tun zu haben. In den Strophen singt Bruce auch sehr rauh und gepresst und das Dropped D Tuning der Gitarren tun ihr Übriges. Erst bei der sich ausserordentlich euphorisch steigernden Bridge und beim Refrain merkt man dann, dass man es mit dem ehemaligen Sänger von Iron Maiden zu tun hat. Das Lied ist eine richtig fiese Granate. Das klassische Maidenfeeling kommt dann allerdings bei den Gitarrenharmonien nach dem Refrain und bei den wirklich astronomischen Soli auf, die Roy Z und Adrian hier zelebrieren. Das Riffing geht fast in Tony Iommi Tiefen und bringt die Erdachse ins taumeln. Der King In Crimson ist eine dezene Anspielung auf den Beelzebub, also Satan höchstpersönlich. Nicht umsonst hat sich die wegweisende Progressive Rock Ikone King Crimson Ende der 60er so benannt. Trotz des brutalen Anfangs, der wirklich Knüppel aufm Kopp ist, nimmt das Lied dank der Soli eine unerwartete Melodische Wendung. 9/10
2. The Chemical Wedding wildert dann in den Alternative Gefilden, die Bruce bereits Mitte der 90er ausgelotet hat und vermag es, diese Einflüsse mit der hymnischen Epik und wuchtiger Härte des traditionellen Metals zu verknüpfen. Der Refrain ist wirklich majestätisch und hätte genauso gut auch von einem Maidensong in den 80ern stammen können – er hat was von Flight Of Icarus. Die Strophen sind sehr psychedelisch angehauchter, leicht grungiger Alternative Rock, der Refrain reinsassiger Old School Metal. Das überragende Gitarrensolo ist eine herrliche Persiflage von Ludwig Van Beethovens 5. Sinfonie – Roy Z zeigt hier, dass er sich hinter Dave Murray, Adrian Smith oder Richie Blackmore nicht verstecken muss. Er verknüpft Melodie und Härte, meisterliche Virtuosität mit rockigem Groove wie es sonst nur wenige können. Das Lied lebt von seinem stratosphärischen Refrain und den Soli, die modern angehauchten und verquarzten Strophen, die einen zunächst irritieren mögen, werden dadurch aus der Sicht eines Metaltraditionalisten mehr als Wett gemacht... 9,5/10
3. The Tower ist dann der großartige, beinahe Radiokompatible Smash-Hit des Albums. Ein herrlich funkiger und lässig abgehangener Groove aus Bass und Schlagzeug, dazu ein Riff, dass wieder sehr gekonnt Metal und Alternative zu einer unheiligen Symbiose vereint und ein erhabener Refrain, der sich auf hinterhältige Weise in den Schädel frisst. Die Soli sind auch hier wieder überragend, vielschichtig und virtuos, hier duellieren sich Smith und Z auf eine Weise, wie sich Smith und Murray zuletzt auf der Powerslave duelliert haben. Hinsichtlich der kontrastreichen Harmonik werden Erinnerungen an The Duellists oder dem Instrumentalpart von Flash Of The Blade wach. So muss traditioneller Metal im modernen Gewand klingen. 10/10
4. Killing Floor ist ein weiterer Song, der sowohl sehr experimentell, aber auch knüppelhart ist. Mich erinnert er teilweise sehr an Black Sabbath zu Sabbath Bloody Sabbath / Sabotage Zeiten. Das Riffing von Roy Z bringt auch hier wieder die Erdachse ins Taumeln, wie sonst nur Iommi. Der Refrain ist nicht so überragend, sondern eher böse und gehässig. In der Mitte folgt ein sehr ungewöhnlich folkiger und beinahe Jethro Tull artiger Dudelpart aus Cembalo und Streichern und Bruces malerischer, textloser Stimme. Ich finde es faszinierend, dass die Strophen hier um Lichtjahre eingängiger und zwingender klingen, als der Refrain. Die Bridge zum Refrain ist sehr düster und geheimnisvoll, die Gitarrenarbeit pendelt zwischen 70ern und New Metal Moderne. 9/10
5. Book Of Thel zermalmt dann wirklich Alles, was Maiden mit Bruce in den 90ern, aber auch seit der Reunion aufgenommen haben. Das Lied ist abwechslungsreich, komplex, brutal, groovy, heavy, melodisch und rhythmisch vertrackt. Es verbindet epische Progressivität und Ideenreichtum in einer wahnwitzigen Achterbahnfahrt, wo eine perfekt platzierte Melodie die nächste jagt. In Worte fassen lässt sich dieser aberwitzige Parforceritt nicht, Bruce singt hier sehr viel souveräner als bei Maiden in den 90ern, er wirkt so gelassen und befreit, zugleich aber kraftvoll und inbrünstig. Auch der fette Bass von Eddie Cassilas blubbert hier in herrlich vollmundigen Geezer Butler Tiefen und rhythmisch trommelt sich Dave Ingraham in eine hypnotische Ekstase. Ein herrlicher und verwirbelter Drum-Fill jagt den nächsten, die Soli sind von ungezügelter, urtümlicher Schönheit, die Gesangsmelodien in jeder Hinsicht zwingend und ich übertreibe nicht, wenn ich Euch predige, dass dieses Lied wirklich das Beste ist, was Bruce je ohne Maiden oder seit 1988 mit Maiden zu Stande gebracht hat. Der göttliche, ich sage wirklich GÖTTLICHE Refrain zwingt mich erst in die Knie und dann motiviert er mich, mit den Küchenstühlen Luftgitarre zu spielen und danach unter der Dusche so laut mitzubrüllen, dass die Nachbarn mich am liebsten in die Klapse wünschen. Leute, Tradition und Moderne, Altertum und Neuzeit werden hier herrlich ideenreich miteinander verwoben und am Ende darf bei einer elegischen Klaviermelodie auch der großartige Arthur Brown noch ein Blake Gedicht rezitieren. Ja, ihr habt richtig gehört. Der Arthur Brown, der auch Fire gesungen hat. Die acht Minuten vergehen wie im Fluge und lassen einem atemlos zurück. Chapeau, das ist wirklich eine cineastische und beeindruckende Leistung, Bruce Allmächtig! 10/10 mit Tendenz zur astronomischen 12/10.
6. Mit Gates Of Urizen wird dann eine Atempause notwendig, eine entspannte Verschnaufpause in Form einer herrlich melodischen Ballade, die entfernt an Children Of The Damned oder Remember Tomorrow erinnert. Bruce singt hier wieder sehr gefühlvoll, zurückhaltend und beinahe geheimnisvoll flüsternd. Erst beim zweiten Refrain kommt er aus sich heraus und erreicht erneut mühelos stratosphärische Höhen, wie zu seligen Zeiten in den 80ern. Gesanglich ist das vielleicht sogar seine beeindruckendste Leistung überhaupt. Viel passiert in diesem Lied nicht, aber das Solo von Mr. Z erinnert stark an Dave Murray Anfang der 80er. Ich finde das Lied malerisch schön und bezaubernd. Nach der Achterbahnfahrt war das auch gut und wichtig, einen Gang zurückzuschalten und dieses hübsche Kleinod von Powerballade aufs Parkett zu zaubern. 9.5/10