Ich war am 04.09. zum Konzert von
Ray Wilson in Chemnitz und es hat mich doch so beschwingt, dass ich hier was Längeres dazu hinterlasse.
Ray Wilson, falls nicht bekannt, verdient seine Brötchen nach wie vor mit Genesis. Er tourt durch die Lande mit verschiedenen Konzertprogrammen, die am Ende stets zu gewissen Prozentpunkten auf eine Genesis-Nostalgierunde hinauslaufen. Es ist natürlich Nostalgie für eine ausgewählte Minderheit der Genesis-Fans, denn man sollte neben den Songs der Ära Wilson, d.h. der Phase von "Calling all Stations" über "Calling all Stations" bis "Calling all Stations", auch die Stimme Wilsons mögen, wenn sie Genesis-Oldies der 80er/90er-Rockpop-Ära (weiter zurück geht es i.d.R. nicht) interpretiert. Und man sollte wegdrücken können, dass der Anteil an Prog Rock sich auf diesen Konzerten meist irgendwo nahe Null einpegelt.
Ich selbst bin kein Genesis-Kenner, geschweige denn -Nostalgiker, habe die Band in den 90ern über diverse Live-Alben der Collins-Ära kennengerlernt und mit ordentlicher Verspätung in den 2010ern noch „Calling all Stations“ für mich entdeckt. Ich verbinde sehr Persönliches mit dem Album, habe es viel gehört, als unser erstes Kind geboren ist. Im Frühjahr 2018 besuchte ich ein Konzert von Ray Wilson in Leipzig, als der Kleine gerade wegen verschiedener zu klärender Dinge im Krankenhaus lag, und ich saß da mit schlechtem Gewissen, fieberhaft alle paar Minuten auf mein Handy starrend, kaum bei der Sache. Mitten hinein in die RW-Solonummer „Alone“ erhielt ich eine SMS von meiner Frau, dass alles i.O. ist und sie morgen entlassen werden. „Alone“ ist seitdem auf immer mit diesem Gefühl der Erleichterung für mich verbunden. Ich konnte das Konzert danach doch noch genießen, habe diese emotionale Episode ein paar Tage nach dem Konzert Ray geschrieben und er hat sehr nett und empathisch reagiert. Also ich bin hier echt positiv voreingenommen wie Hölle.
So, genug der Präludien. Chemnitzer Austragungsort war die Kirche St. Markus, so dass Wilson und Band sich zwischen Altar, Taufbecken und Kanzel platzierten. Mittig vor einem großen Holzkreuz mit der Fleischwerdung des Dreieinigen daran stand Wilson selbst, passend zum Ambiente im Shirt mit dem Aufdruck "Religion" und einem Totenkopf darunter.
Das Konzert war Teil der Reihe "Genesis Classic", bei der Wilson neben seiner Band mit einem Kammerorchester aufwartet – so habe ich es nach den Promotexten und YT-Clips zumindest erwartet. Am Ende war "Classic" aber ein Etikettenschwindel und reduzierte sich das vermeintliche Ensemble auf genau eine Person, Geigerin Alicja Chrząszcz. Ein bissel Etikettenschwindel war auch das "Genesis", denn von insgesamt 22 Stücken waren lediglich acht von Genesis, der Rest verteilte sich auf RW-Solostücke (fünf) und neun weitere Cover von (naheliegenderweise) Stilkskin bis David Bowie. Die Setlist entspricht weitestgehend der von
Hamburg einige Tage zuvor, nur dass statt "I, Like You" der schnarchnasige Collins-Solo-Schmachtfetzen "Another Day in Paradise" erklang und die Zugaben auch andere waren.
Persönlich hat mich der - sicher verkaufsfördernde - Etikettenschwindel nicht gestört. Es wäre interessant, die Zeit zurückzudrehen, und RW zu erlauben, als Musiker ohne das Etikett "der, der mal bei Genesis war" auf die Bühne zu gehen. RW hat schon diverse Alben mit Solostücken veröffentlicht und, ja, SIE SIND GUT, bieten balladesk angelegten Singer/Songwriter-Akustikrock, etwas poppig, aber nicht zu flach, gelegentlich spleenig, aber nicht proggy, und immerzu melancholisch. Neben dem schon angesprochenen "Alone" war diesen Abend besonders der Neuzugang "Symptomatic" nichts weniger als ein Traum. Live die absolute Gänsehautnummer. Dagegen können ausgeleierte Schmonzetten wie "Follow Me, Follow You" oder "That´s All" einpacken und von mir aus hätte er sie auch durch Solonummern ersetzen können. Aber da bin ich eine Minderheit in der Minderheit. (Zugegeben, auf "Home by the Sea" will auch ich nicht verzichten - was für ein Megasong, egal mit welchem Sänger.)
Seine Solonummern sind auch viel mehr für seine Stimme geschrieben. RW hat beim Sprechen einen herrlichen Bass und auch beim Singen voluminöse Tiefen, und man verspürt Mitgefühl, wenn er durch die hohen Töne von "No Son of Mine" muss, was er zwar respektabel, aber etwas angestrengt und kurzatmig tut.
Ansonsten habe ich jedesmal den Eindruck, dass RW eigentlich nicht auf der Bühne zuhause ist: Seine Waldschratoptik mit langen speckigen Haaren, die er während des Konzerts alle paar Sekunden aus dem Gesicht schiebt, kann man charmant, Anti-Rockstar und sexy finden, OK. Ansonsten wirkt alles etwas unfertig, trotz inzwischen 20+ Jahren Liveerfahrung. Fehlt die Gitarre, wandert die Hand in die Hosentasche. Blicke ins Publikum gibt es nur wohldosiert. Sogar beim Animieren zum Klatschen dreht er sich teilweise mehr in Richtung seiner Mitmusiker:innen als zum Publikum. Für mich fehlt die Ausstrahlung. Aber sympathisch ist es schon, wenn er in einer Ansage einen Witz auf Kosten seines Gitarristen reißt, und sich gleich im Anschluss dafür entschuldigt.
Die Band ist spielerisch klasse, wobei Gitarrist [insert name here - kann optisch nicht zuordnen, ob das Uwe Metzler oder Ali Ferguson war] und Saxophonist Marcin Kaiper mit diversen Solospots hervorstechen, während Geigerin Alicia C. kaum einen solchen erhält und meistens, gerade bei den vielen Covern, mit dem Synthie mitspielt, so dass sie rein akustisch kaum wahrnehmbar ist; optisch sind sie und der sehr agile Marcin K. die Blickfänger, auch weil beide sicher 20 Jahre jünger als die anderen sind.
Überraschungen waren für mich "The Carpet Crawlers", weil von 1974, und der Collins-Evergreen "In the Air Tonight" in einem intimen Akustikarrangement. Dagegen war das Schrammelmedley im Zugabenblock, dass alle Lagerfeuerklassiker der Weltgeschichte versammelte und in einer 1:1-Wiedergabe des totgecovertsten Stücks dieses Planeten, unseres Sonnensystems und aller vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Universen überhaupt, "Bore-Bore-Boring on Heavens Door", mündete, verzichtbar, wurde aber durch eine 1:1-Wiedergabe von Stilkskins "Inside" wiedergutgemacht, die neben dem Konzertabschluss auch die härteste Nummer im Set darstellte. Das Ding ist und bleibt: Metal, egal ob da in den 90ern "Grunge" draufgeschrieben wurde. Top Teil. Da stand ich schon zum Muckeeinpacken am Merchstand, wo ein Crewmitglied im Multitaskingmodus völlig relaxt zwischen Lichttechnik und Abrechnung der Einkäufe hin- und herwechselte.
Cool und sympathisch war das Chemnitzer Publikum. Keine Ahnung, ob die Extremmetal-Crowd, in der ich live ansonsten unterwegs bin, einfach zu feedbackgeizig oder übersättigt ist, aber so eine gute und den Künstler wertschätzende Stimmung habe ich eine Weile nicht mehr erlebt. Der Applaus und Jubel war nach jedem Stück, auch den Solonummern, warm und langanhaltend bis zur Folgeansage und ab dem Peter-Gabriel-Cover "Solsbury Hill" war auch die Überschrift "Sitzkonzert" obsolet. Der Altersmedian lag nach rein optischer Inspektion irgendwo im Bereich 55-60.
Publikumsfavorit war nach Dezibelzahl "Land of Confusion". Mein persönlicher Nostalgiemoment neben - natürlich - "Alone" war ein anderer. "Calling All Stations" geht mir in seinem gleichförmigen Aufbau echt an die Nieren, kam hier als Eröffnung des zweiten Sets wuchtig und düster angeschlichen, und als Ray Wilson im Grande Finale dann ansetzte zu "And I long for the feeling of your arms to remind me ...", bahnte sich bei mir doch tatsächlich ein Tränchen den Weg ins Freie: " ... that everything that´s dear to me, and is always in my heart, could so easily be taken, and it´s tearing me apart, going over and over in my mind, I relive it one second at a time". Danke, Genesis, das war groß. Danke, Ray Wilson, das war groß.
Zum Nachhören:
Alone: Symptomatic:
https://www.youtube.com/watch?v=MVrKVt4gtWQ