Danke schon mal für die umfangreiche Rückmeldung. Ich versuche mal, deine Argumentation der Reihe nach durchzugehen, um so meinen Standpunkt vielleicht etwas klarer zu machen.
Natürlich sind die poppigen Anteile von Leprous nicht solche einer anspruchslosen Art, da hast du schon Recht. Der Punkt, auf den ich damit hinauswollte, ist aber trotzdem eher der, dass die Band sich hiermit in Teilen auf einen Stil verlässt, der eigentlich nicht ihr eigener ist. Das ist erstens nicht sonderlich kreativ, zumal es zweitens eben sonstige Qualitäten der Band wiederum verdeckt und drittens genau solche Anbiederungen an gewisse Sounds der 80er doch nicht wirklich als "progressiv" durchgehen dürften (umso mehr deshalb, weil 80er-Zitate in den letzten 5-10 Jahren zu einer sehr, sehr mainstreamigen Erscheinung geworden sind, was Leprous hier dann auch noch beinahe wie Trittbrettfahrer wirken lässt). Mir behabt so etwas jedenfalls nicht, zumal auch die Möglichkeiten, hieraus durch die Kombination mit anderen, eigenen Stilistiken einen echten Mehrwert zu schaffen, kaum ausgeschöpft wurden. Man vergleiche: Das ist wie mit Opeth vor 10 Jahren, die auf "Heritage" einfach dem 70er-Rock gefrönt haben, ohne dass irgendwie mit ihrer Death-lastigen Vergangenheit zu verbinden - da wurde eine ähnliche Riesenchance vertan.
Den Teil mit OPETH sehe ich einerseits ähnlich, andererseits war das in meinen Augen trotzdem ein wahnsinnig gutes und mutiges Album und auch wenn Opeth da ihren Death-Metal-Anteil komplett über Bord geworfen hatten, kann man dennoch sagen, dass die Songs trotz des deutlichen 70er-Prog-Stils total nach Opeth klingen. Ich sehe da lediglich
"Slither" als "Kopie" oder Hommage (an RAINBOW natürlich), während die anderen Songs nie nach einer bestimmten 70er-Band klingen, sondern immer nach Opeth (im 70er-Prog-Gewand). Das finde ich schon auch eine kreative Leistung (auch wenn ich es, wie du, spannend gefunden hätte, wenn da noch wenigstens ab und an Death-Metal-Reste mit dem Stil verwoben worden wären).
Aber zu LEPROUS: wenn du sagst, dass in den letzten 5-10 Jahren 80er-Zitate zum Trend geworden sind und die Band deshalb fast wie Trittbrettfahrer erscheint, finde ich das unlogisch, denn diese 80er-Pop-Elemente hatte die Band sogar bereits auf ihrem Debüt von 2009 (die Eigenproduktion von 2006 kenne ich noch nicht), also seit mindestens 12 Jahren (soviel auch zu deinem Punkt, dass da bei der Band nun neue, abgekupferte Stilelemente den eigenen Stil der Band verdecken würden - diese waren aber eben schon immer
Teil des Stils der Band).
Das Debüt ist allerdings von den Songstrukturen her tatsächlich noch sehr anders, da sind oft mehr Riffs und Parts in einem Song als später - allerdings herrschte in meiner Wahrnehmung auf dem von dir erwähnten
"The Congregation" bereits das Strophe-/Bridge-/Refrain-Schema vor, wenn auch oft mit weiteren Parts angereichert (z.B. ein Mittelteil oder eine Wendung oder ein neuer Part gegen Ende - haben einige der neuen Songs aber auch). Und das Debüt wirkt nicht zuletzt deshalb auf mich auch noch weniger fließend als die Songs der Alben ab
"Bilateral", die zwar manchmal einen abgedrehten Stilmix bieten, aber eben oft auch nicht gerade aus wahnsinnig vielen verschiedenen Parts bestehen.
Ja, doch, natürlich schaue ich vorwiegend auf Songstrukturen. Das hast damit zu tun, dass sich nach meinem persönlichen Wertmaßstab erst hier die Spreu vom Weizen trennt: Denn umgekehrt lassen sich gerade einfach aufgebaute Songs sehr leicht mit etwas Augenwischerei bei Arrangement, Produktion und ein paar stilistischen Versatzstückchen als sehr viel "komplexer" verkaufen, als sie es im Kern sind. Wirklich spannend wird es dagegen erst, wenn die Band dann auch mal etwas weiter denkt und vom Strophe-Bridge-Refrain-Solo-Schema abweicht. Ich find's immer klasse, wenn sich die Komponist*innen da was trauen und mal anders geartete Strophen einschieben, Refrains variieren, komplett andere Parts unterbringen und am Ende irgendwie doch noch den Bogen zu einem bekannten Element spannen, sei es eine Melodie, ein Motiv oder ein Textfragment - und sich sowas dann im Laufe der Hördurchgänge langsam erschließt (oder, um mal den entgegengesetzten Fall zu benennen, bei einem mehrteiligen Longtrack festzustellen, dass nicht einfach willkürlich Passage an Passage gepappt wurde). All das ist bei den Leprous-Songs überwiegend kaum gegeben, die sind in ihrer kompositorischen Substanz zumeist nicht übermäßig verdreht oder fordernd.
Hm, ich stehe zwar auch total auf komplexe Songverläufe mit vielen Parts, sehe aber absolut keine "Augenwischerei" darin, wenn die Abwechslung sich mehr auf Dinge wie Variation und Verdichtung der Parts bei Wiederholung verschiebt. Ich denke, letztlich ist beides eine Kunst. Und, wie schon vorher geschrieben, Leprous hatten schon sehr früh auch immer einfacher strukturierte Songs - was manchmal halt wegen der härteren Gitarren - oder natürlich auch mal schrägeren Taktarten, bzw. Polyrhythmik - nicht so auffiel - aber bis auf die harten Gitarren haben sie sich auch davon noch etwas bewahrt.
Nein, ich habe das nicht "vergessen" - ehrlich gesagt kenne ich Leprous erst seit "The Congregation" und habe mich mit den früheren Platten nie beschäftigt, sodass ich derartige Stücke von früheren Platten gar nicht kennen kann.
Aber trotzdem: Womöglich waren das damals Einzelfälle, heute dagegen ist solches Songmaterial auf Leprous-Alben offenbar die Regel. Dass es sowas damals schon gab, kann bedeuten, dass die Band damals schon ein Faible für kunstvollen 80er-Pop hatte, der für die Entwicklung des eigenen Stils wichtig war, und heute einfach die Prioritäten verschoben hat. Die bloße Existenz von sowas macht allerdings die heutigen Songs eben auch nicht anspruchsvoller oder - anders ausgedrückt - lässt sie in den Kategorien, in denen ich sie werte, nicht aufsteigen.
Hör dir
"The Congregation" noch mal an, da wirst du feststellen, dass dieses typische Pop-Song-Schema darauf gar nicht so ein Einzelfall ist.
Mit dem Rest hast du soweit Recht, dass die Pop-Elemente schon immer in der Entwicklung ihres Stils eine Rolle gespielt haben und sich die Prioritäten wohl inzwischen verschoben haben.
Ich würde dir aber trotzdem insofern widersprechen, dass die Musik der Band nun viel weniger komplex oder weniger anspruchsvoll sei.
Natürlich, der Gesang von Einar Solberg ist schon recht affektiert, aber damit habe ich eigentlich kein Problem. Ankreiden könnte ich "Aphelion" mit Blick darauf höchstens, dass die Produktion sehr eben auf dieses Mittel zugeschnitten ist und die instrumentale Seite dahinter immer weiter zurücksteckt. Was ja eben auch wieder so ein nicht das untypischste Merkmal von Pop ist - ganz unabhängig von dessen sonstiger musikalischer Komplexität.
Da stimme ich zu, soweit ich das bisher über die Youtube-Videos der Songs vom neuen Album beurteilen kann. Der Gesang scheint mir wirklich mehr in den Vordergrund gemischt zu sein, was ich bei Rock und Metal eigentlich nicht so gerne mag, aber mal abwarten, wie das dann von CD oder Vinyl auf der Stereoanlage wirkt...
Ach, der Wilson-Vergleich ergab sich meinerseits hauptsächlich (a) durch die Ähnlichkeit zwischen "Running Low" und "Self" und darüber weiter gefolgert (b) aus dem generellen Umstand, dass beide Alben eben poppig sind, wobei sich (c) Wilson auch textlich mit dem weiteren Überbau dieses Themas auseinandersetzt, und zwar mit Konsum als Mittel zu Distinktion und Selbstausdruck - eine Brücke, die Leprous textlich natürlich nicht schlagen, sodass der doppelte Boden unter der Musik hier eben fehlt. Aber ich assoziiere gerne mal solche Sachen, also sollte man diesen Vergleich auch nicht zu hoch hängen. Übrigens: Welche Progmetal-Vergangenheit hätte Wilson denn überhaupt bewahren können?
Natürlich hat Wilson keine Progmetal-Vergangenheit, aber das entsprechende bei ihm wäre halt seine Progrock-Vergangenheit, und von der hört man doch auf seinen letzten beiden Alben nicht einmal mehr Spurenelemente. Darin unterscheiden sich neue Leprous halt von seinem jüngsten Output, das meinte ich damit.
Ansonsten sei abschließend noch gesagt, dass mir in solchen Diskussionen immer letztlich eine bombenfeste und belastbare Aussage fehlt hinsichtlich der Frage: In welchem Aspekt ihrer Musik sind Leprous auf "Aphelion" progressiv oder innovativ oder bieten etwas einzigartiges, noch nie dagewesenes?
Wenn du danach gehst, kannst du gleich locker 99% aller (!) Veröffentlichungen der letzten Jahre aus den Bereichen Progrock und Progmetal absprechen, Prog zu sein - denn innovativ, einzigartig und nie dagewesen ist da doch seit vielen Jahren nur noch sehr, sehr selten etwas. Und nenn mir mal Bands, die genauso klingen wie die letzten beiden Leprous-Alben! Mir fällt da tatsächlich keine ein. Allenfalls gibt es halt Parts in Songs, die mal an die eine oder andere Band erinnern, aber keinen kompletten Song und schon gar nicht das komplette Album (dafür bieten die beiden letzten Alben nämlich auch einen viel zu breit gefächerten Stilmix, den ich in seiner Gesamtheit durchaus eigenständig finde).