Neue Musik, moderne Musik, Avantgarde & Co

Ah, das Orgel-Thema geht weiter! Diesmal aus dem 'Just Intonation'-Milieu. Hab von der Komponistin nie was gehört, aber das Blechbläser-Trio kenne ich. Die sind hier aus Berlin. In Berlin ist auch ein Tummelbecken für die 'Just Intonation'-Szene. Gestern Abend war ich erst bei einem Konzert, wo ein Stück von Marc Sabat gespielt wurde (dieses um genau so sein: ), der so ein bißchen der Guru (und tatsächlich ein sehr seriöser und fachkundiger Experte) der Szene ist und bei dem auch Ellen Arkbro studiert hat, wie ich gerade laß. Die Just Intonierer*innen gehen sozusagen zurück an die Grundfesten der Musik, an seine harmonische Konstruktion. Die heute selbstverständliche wohltemperierte Stimmung wird als schlechter Kompromiss kritisiert und mit alternativen Stimmungen und eben der Reinstimmung experimentiert und Musik konstruiert. Die Musik ist hier meist ruhig und häufig statisch gehalten, weil sich so natürlich am besten in die Klänge hineinhören läßt und harmonische Färbungen genießen läßt.

Problem der Reinstimmung ist natürlich, dass Tonart-Wechsel (bei statisch gestimmten Instrumenten, wie dem Klavier) quasi nicht möglich sind (bzw. nur wenn entstanden Verstimmungen genießen kann).

Ich finde die Szene schon irgendwie interessant, aber z.T. leider auch etwas nerdig verrannt und monothematisch. Prima, dass da Leute an den Grundfesten der Musik rütteln, aber Intonation ist natürlich nur ein Aspekt von Musik und Konstruktion und Form scheinen mir mitunter etwas vernachläßigt. So klingt es häufig (für mich) ganz toll, ist aber auf Dauer irgendwie etwas langweilig.

Der beteiligte Tubist der Aufnahmen von Ellen Arkbro hat auch ein Tuba-Trio, dass sich auf den Intonations-Aspekt und Oberton-Skalen auseinandersetzt.
siehe Microtub: https://soundcloud.com/sofalabel/microtub-violet-man-release-10-february

Interessant in dem Zusammenhang finde ich persönlich die Gruppe The Pitch aus Berlin. Sie gehören nicht direkt zur Reinstimmungsszene, Intonation (und Resultate seiner Ungenauigkeit) und schwegungsreiche Ton-Texturen gehören aber zu ihren wesentlichen Gestaltungsmerkmalen.
http://www.thepitch.tk/
 
Nicht mehr ganz tagesaktuell möchte ich eines meiner liebsten Album avancierter elektronischer Musik empfehlen. Es handelt sich um den Berliner Rashad Becker und sein 2016er Album "Traditional Music of Notional Species Vol. II":
https://rashadbecker.bandcamp.com/album/traditional-music-of-notional-species-vol-ii
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Beckers Klänge sind rein synthetisch generiert, trotzdem hat die Musik eine sehr organische Qualität und für mich zumindest eine Emotionalität, wie ich sie häufig in elektronischer Musik vermisse. Mich erinnert die Musik teilweise ein balinesische Gamelan-Musik und auch klassische indische Musik.
Becker ist übrigens sehr renommiert für sein Mastering und als Vinyl-Cutter im Bereich elektronischer und experimenteller Musik. So ist auch diese Platte ein klanglicher Genuss.
 
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Was Ende der 80er für mich Metallica waren, war Ende der 90er Helmut Lachenmann. Gerade sein Frühwerk strotzt vor Radikalität und er hat sich große Verdienste erworben durch die Integration von Geräuschen (auf traditionellen Instrumenten), also quasi Acoustic Noise oder wie Lachenmann es selber (in Anlehnung an die Musique Concrete) nennt Musique Concrete Instrumentale.
Über die Jahre ist mein Interesse ein bißchen ermüdet, weil seine Geräuschradikalität und der innovative Entdeckungsdrang etwas nachgelassen haben und seine dramatischen Mittel (gerne Crescendos mit schnellem Abriss) sich irgendwann bei mir abgenutzt haben.
Doch dieser Tage überkam es mich und ich hab mir mal die Einspielung aller drei Streichquartette durch das amerikanische Jack Quartet auf Mode Records zugelegt. Enthalten ist u.a. das epochale Frühwerk Gran Torso (1972) und sein letztes und drittes Streichquartett, dass mir bis dahin nicht bekannt war, Grido (2000/1).
Nun Aufnahme und Interpretation machen auf mich einen hervorragenden Eindruck und es ist schön auch die mir bekannten Werk nochmal in einem anderen Licht zu hören.
Für die Grundausstattung der häuslichen Neue Musik-Apotheke kann ich das Album nur sehr empfehlen.
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[Kann man auch auf Spontifix hören: https://open.spotify.com/album/1Q7IkhVYzDSFdJo27950Km ]
 
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Wollen wir doch heute Abend mal noch eine Plattenempfehlung nachlegen. Diesmal eine Produktion aus meinem Bekanntenkreis, die ich aber auch ohne persönliche Verblendung den FreundInnen dieses Threads ans Herz legen kann.

Es handelt sich um das Stück Small Worlds von Werner Dafeldecker. Die Aufnahme ist bereits 15 Jahre alt, aber die Schallplatte ist gerade kürzlich auf dem neuen ambitionierten Berliner Schallplatten-Label Edition Telemark erschienen. Die Sextett-Besetzung ist jeweils doppelt besetzt mit Streichern, Schlagzeug und Tasteninstrument. Mit von der Partie sind u.a. die in diesem Thread schon erwähnten John Tilbury am Klavier (bekannt durch die Gruppe AMM und seine Interpretationen von Feldman- und Cage-Werken) und Organist Klaus Lang. In Small Worlds ist das musikalische Material unbestimmt. Die Musiker improvisieren nach bestimmten festgelegten Beziehungsgeflechten untereinander und Vorgaben bezüglich der jeweiligen Dynamik, die in einer zeitlich Struktur festgelegt sind. So bilden sich im Stück standig neue Untergruppierungen, die voneinander unabhängig parallel agieren. So führt jede Aufführung zu einem anderen Ergebnis. Die Musik hat so ein Allover-Feeling, ohne wirklichen Beginn, Klimax und Ende. Die Musik verdichtet sich und dünnt sich aus, aber frei von dramatischem Ambitionismus. Alles ist getragen von einer gewissen Lösigkeit.

Das Sextett war 2004 mit diesem Stück auf einer kleinen Tour und ich hatte das Vergnügen eine Aufführung in Wien zu hören. Ich habe die darauffolgenden Jahre immer wieder gefragt, wann denn endlich die Aufnahmen veröffentlicht werden. Nun, jetzt ist es endlich soweit. Die Platte klingt übrigens auch ganz ausgezeichnet.

Hier kann man's hören: https://wernerdafeldecker.bandcamp.com/album/small-worlds-2
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Gerade frisch eingetroffen hier ist die neue LP Homage to Dick Raaijmakers von Thomas Ankersmit (auf Shelter Press Records). T.A. ist ein aus den Niederlanden stammender, aber seit vielen Jahren in Berlin lebender elektronischer Komponist, der vorrangig mit analogen Synthesizern arbeitet. Bekannt geworden ist er unter anderem durch Kollaborationen und gemeinsame Tourneen mit Phill Niblock. Ich habe schon sein 2014er Solo-Album Figueroa Terrace (Touch Records) sehr geschätzt, aber sein neues Album, dass ungleich roher, klarer und zurückgenommener daherkommt, gefällt mir auf Anhieb gleich noch mehr. Hört doch mal rein:
https://shelterpress.bandcamp.com/album/homage-to-dick-raaijmakers
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Zufällig fast genau ein Jahr nach meinen Post, läuft das Album hier mal wieder. Großartiges Album! Was habt Ihr noch nicht? :acute: Na dann aber mal ran da.
 
Es wird mal wieder Zeit für ein bißchen Eigenwerbung. ;)

artist: Seamus Cater & Kai Fagaschinski
album title: Secrets
label: self-release

release date: November 18th, 2019
formats: LP & download
file under: contemporary composed music, experimental song

stream and purchase at: https://caterfagaschinski.bandcamp.com/

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Seamus Cater | voice, concertina, Rhodes and harmonica
Kai Fagaschinski | clarinet

A-Side: As We Destroyed the Band 1’36 | The 26th of March 4'31 | Blackout 4'33 | The Philosopher 6’05
B-Side: Blasphemy 1'36 | Clarinet and Concertina 5’48 | The Dot Before the I 4’18 | The Barrel Organ 4'31

After six years of secluded work, Seamus Cater and Kai Fagaschinski present their debut album, Secrets. Their collaboration represents a collective process where all music was composed together in the same room. No advance sketches were used, no strategies established, every piece began with a basic exploration, asked a different logic and required its own form. The ingredients are simple, a careful assembly sets them in motion and bestows them with unexpected purpose. The subtle end of storytelling liaises with abstraction and the elegant yet precise articulations might propose a form of modern court music. Secrets reflects the individual paths of Cater and Fagaschinski, but could only have been built in the space between them.
 
Eigenwerbung / an die BerlinerInnen / Samstag geht's los:

Three Nights of Nothing
celebrating 20 years of The International Nothing


The International Nothing - Berlin’s finest duo force in psycho-acoustic clarinet pleasures - is celebrating its 20th anniversary and invites you to a three-part retrospective. In the course of three full-album performances they will take you on a trip through the evolution of their sound. For each night they invited marvelous guests all the way from Amsterdam, Paris, Vienna, Sistrans and Berlin to present works that explore and define unique sonic territories. The unexpected connections and stimulating contrasts to the music of The Nothin’ are highly intended.

The International Nothing
Kai Fagaschinski | clarinet & composition
Michael Thieke | clarinet & composition
http://nichts.klingt.org/
https://theinternationalnothing.bandcamp.com/

#1
Saturday, January 11th, 2020
km 28
, Karl-Marx-Str. 28, Berlin-Neukölln
doors: 19:30, music: 20:00 (early start on time!)

Morton Feldman
: Palais de Mari (1986) for piano, performed by Antonis Anissegos
Seamus Cater plays Traces of Alexander J. Ellis (2020) for voice and extended Pythagorean concertina
The International Nothing plays Less Action, Less Excitement, Less Everything (2006-2009)

#2
Friday, February 28th, 2020
Laborgras
, Paul-Lincke-Ufer 44A (2nd backyard), Berlin-Kreuzberg
doors: 19:30, music 20:00, admission: 8 €

Helmut Lachenmann: Salut für Caudwell – Musik für 2 Gitarristen (1977), performed by Barbara Romen and Gunter Schneider
The International Nothing plays In Doubt We Trust (2015-2017)

#3
Wednesday, April 1st, 2020
ausland
, Lychener Str. 60, Berlin-Prenzlauer Berg
doors: 20:00, music: 20:30, admission: 8 €

Martin Brandlmayr plays Vive les fantômes (2018) for drums, vibraphone, computer & electronics
Christine Abdelnour | alto saxophone & Magda Mayas | piano
The International Nothing plays The Dark Side Of Success (2010-2013)
 
Livestream: METAL VS. AMBIENT: Ensemble Modern, Flo Mounier, Attila Csihar Bernhard Gander


Ich finde es ziemlich geil.
 
Ich war ein bißchen unaktiv hier in letzter Zeit, aber nun endlich möchte ich Euch auf meine in diesem Jahr bisher liebste Veröffentlichung zeitgenössischer Musik (bzw. eigentlich überhaupt) aufmerksam machen. Es handelt sich um die akutelle LP des in Nantes lebenden, australischen Schlagzeugers Will Guthrie. Guthrie kommt von der experimentellen und improvisierten Musik, wandelt bisweilen auch im Jazz und Free Jazz und arbeitet zunächst einmal mit dem Schlagzeug-Set. In den letzten Jahren hat er sich aber sehr eingehend mit Gamelan Musik (Perkussion-Musik aus Indonesien) beschäftigt und legt nun sein erstes Werk für Gamelan-Instrumentarium vor: Nist Nah. Dringliche Hörempfehlung!
https://willguthrie.bandcamp.com/album/nist-nah

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P.S.: Diese schon etwas ältere, überaus wuchtige Schlagzeug-Solo-Platte von Will Guthrie sei vielleicht als Kontrast auch noch gleich mitempfohlen: https://willguthrie.bandcamp.com/album/sticks-stones-breaking-bones
 
Zuletzt bearbeitet:
In dem Zusammenhang möchte ich auch gleich noch den indonesischen Komponisten Dewa Alit und sein Ensemble Gamelan Salukat erwähnen. Deren aktuelle Scheibe Genetic dreht hier auch gerade häufig und sorgt für anregende Unterhaltung. Gamelan Musik ist auf Bali und Java eine traditonelle, aber auch immernoch sehr lebendige Kultur. Alit ist ein Komponist der die Gamelan Musik mit avantgardistischem Ansatz weiterentwickelt.
Ich interesse mich ja sehr für traditionelle Musiken Ost-Asiens und meist sind die Musik-Kulturen über Jahrhunderte konserviert. Kürzlich habe ich dann über Will Guthrie von der jungen, experimentellen Gamelan-Szene erfahren und bin ganz fasziniert.
Also, hört mal unbedingt in die Genetic-LP rein. Die traditionelle Gamelan-Musik ist natürlich auch sehr zu empfehlen, aber das wäre wohl eher Thema für einen anderen Thread.
https://dewaalit.bandcamp.com/album/genetic

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Übrigens sowohl Will Guthries LP, als auch Dewa Alits Platte sind auf Black Truffle Records erschienen, dem Label des Gitarrist Oren Ambarchi, dessen Musik hier sicher auch schonmal in diesem Thread erwähnt habe.
 
Im Zuge der Konzertabsagen gibt ja in diesem Jahr überall hochwertige Video-Aufführungen zu bestaunen. Beim ins Netz verlegten WienModern-Festival gab's und gibt's diese dufte Mucke (mit u.a. meinem Nachbarn am Schlagzeug):

Polwechsel + Klaus Lang
plays ...

- Klaus Lang: aquin
- Michael Moser: Farai un vers de dreit nien
- Werner Dafeldecker: Kepler 24b
Klaus Lang | Harmonium, Michael Moser | Violoncello, Werner Dafeldecker | Kontrabass, Burkhard Beins | Schlagzeug, Perkussion Martin Brandlmayr | Schlagzeug, Perkussion Wolfgang Musil | Klangregie

 
Der eh hier schon Thema gewesene Helmut Lachenmann, seines Zeichens stetiger Arbeiter an der Emanzipation des Hörens und des Geräusches, wurde unlängst 85. Aus diesem Anlass hat der SWR eine recht sehenswerte und erhellende Dokumentation produziert - nachzusehen hier:

https://www.ardmediathek.de/swr/vid...ernsehen/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzEzNTg4Mjc/
Danke für den Tipp! Wird die Tage weggeguckt.
Schon lustig, hätte ich nie mitbekommen, wenn es nicht das DFF geben würde.
 
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