Um mal etwas gegen die simplen Dreiwort-Beiträge zu unternehmen, werde ich alle paar Wochen ml einen etwas längeren Abriss bedeutender und mMn empfehlenswerter Bands und Künstler dieses Genres posten. Ich hoffe es ist ok, wenn ich den Thread dafür kapere
@BavarianPrivateer.
Wenn wir uns über das Genre "Mittelalterrock" und seine beeinflussten Nebenschauplätze unterhalten, hilft es natürlich die Ursprünge zu kennen. Wie in den meisten anderen Musikrichtungen auch gibt es natürlich mehrere Einflüsse, beinahe parallel ablaufende Gründungen wichtiger Bands und Vorgänger in Ästhetik und Performance.
Eine der aber unbestreitbaren Vorreiterbands sind ganz eindeutig
Statement zur Lage der ganzen Musica - Vorbetrachtung
OUGENWEIDE wird im April 1970 gegründet. Es sind stürmische Zeiten in Westdeutschland (die ostdeutsche Entwicklung würde ich später noch einmal skizzieren, das sprengt hier sonst den Rahmen) und stürmische Zeiten sind der Kunst besonders förderliche. Auf der Suche nach einer kulturellen Identität, die nicht von den Nazis okkupiert und korrumpiert wurde, besinnt sich die (überwiegend studentische) Jugend der Zeit auf eigentlich längst vergessene Epochen und künstlerische Ausdrucksformen. Mit den Idealen der Wandervogel-Bewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts wie auch den liberalen studentischen Bewegungen des Vormärz findet man recht schnell zwei historische "Vorgänger", die von vielen als besonders nah am eigenen Zeitgeist empfunden werden. Die damit verbundenen musikalischen Trends, namentlich Folkmusik zu dieser Zeit, haben dadurch auch viel weniger vom heimeligen "Schrumm Schrumm" und viel mehr revolutionär empfundenen Ausdruck. Ihre kreativen Schmelztiegel findet die Szene auf den Folk-Festivals auf Burg Waldeck, wo Musik, Theater und provokante Perfomance zusammenfinden.
OUGENWEIDE nun greifen noch weiter in die Zeit zurück, indem sie sich bereits sehr frühzeitig auf die Epoche des Mittelalters und dessen musikalische Interpretation verlegen. Ganz neu ist das grundsätzlich auch damals nicht. Ensembles für mittelalterliche Musik existieren auch damals schon und es gibt auch bereits den ein oder anderen Folksänger, der einzelne Texte in sein Repertoire aufnimmt. Jedoch ist die musikalische Gestaltung in Verbindung mit Rockmusik bzw. dem Ausdruck dieser damals noch recht jungen Musikrichtung neu und wegweisend im deutschsprachigen Raum.
Rumet uz die Schäemel und die Stüele - Die goldenen Siebziger
Benannt nach einem Lied des Neidhart von Reuenthal* existiert die Band bis 1973 vor allem als Schüler- und Studentenband. Im selben Jahr wird das Debüt "Ougenweide" aufgenommen. Das Album ist noch sehr nah am klassischen Folk seiner Zeit und hat mit Brigitte Blunck und Renée Kollmorgen am Mikro, trotzdem auch Minn Graw und Olaf Cassalich bereits auf einigen Stücken singen, noch nicht das klassische OUGENWEIDE-Feeling. Trotzdem handelt es sich um ein sehr gutes, leichtfüßiges Album, dass bereits den musikalischen weg erkennen lässt, der vor der Band liegt. Vorallem das feine Gitarrenspiel wird mit den kommenden Veröffentlichungen weiter in den Mittelpunkt rücken. Ein Höhepunkt ist etwa der Solopart des Stückes "Es stount ein frouwe alleine". Mit "Der Sohn der Näherin" findet sich neben allem mittelalterlichem Liedgut bereits eine sozialkritische Eigenkomposition, wenn auch gerade dieses Stück mMn das einzige Schwachstück eines ansonsten sehr runden Albums bildet. Der experimentelle Abschluss "Es fur ein pawr gen holz" klingt dann in seiner beatgetriebenen Einfachheit schon fast wie ein Vorbote künftiger elektronischer Wege des Genres. In Extremo werden die Melodie später für ihr Stück "Werd ich am Galgen hochgezogen" auf der "Verehrt und angespien" (1999) verwenden. Auch verweisen möchte an dieser Stelle auf den kristallklaren Klang der Aufnahmen. Nach vielen Jahren und Jahrzehnten voll rauschender und weniger berauschender Aufnahmen im Folkbereich sind die Produktionen der ausgehenden 60er und 70er Jahre eine Wohltat und noch heute Referenz.
Album:
"Ougenweide" verkauft sich erstaunlich gut und katapultiert die Band bereits kurz nach Erscheinen an die Spitze der deutschen Folkszene. Schon während der Veröffentlichung des Albums treten die beiden Sängerinnen Renée und Brigitte aus der Band aus. Damit bleibt Minne Graw (übrigens kein Künstlername, die Frau heißt wirklich so) als einzige Frauenstimme des Ensembles. Dadurch etabliert sich das "klassische" Gesangsduo Graw/Casalich, dass sowohl extrem prägend als auch für manche ein absolutes No-Go ist. Denn wie sehr auch die Kombination aus Graws (übrigens nicht ausgebildeter) kraftvoller Sopranstimme und Casalichs nasaler Männerstimme für einen Wiedererkennungswert sondergleichen sorgt, so sehr nervt auch viele die eine oder andere oder gar beide.
Bereits ein Jahr nach dem Debüt erschien 1974 der Nachfolger "All die weil ich mag". Grundsätzlich bleibt man dem Stil des Vorgängers treu, nur gibt es von allem Guten jetzt einfach noch viel mehr. Ein wenig wie bei den ersten beiden IRON MAIDEN-Platten. Die melodische Ausarbeitung der Merseburger Zaubersprüche klaut noch heute ausnahmslos jede Band die diesen Text in ihr Repertoire aufnimmt. Ebenso jene des "Palästinalied"es, wofür die Band damals ordentlich auf den Deckel kriegt. Eine christlich verbrämte Kreuzzugspropaganda kommt in Zeiten der Friedensbewegung selbst dann nicht gut, wenn sie über 700 Jahr alt ist. Die luftig leichten Arrangements tragen viel zum Charme der Lieder bei, mehrmals bedient man sich textlich den im Mittelalter weit verbreiteten Fabeln. Absolute Highlights auf dieser meiner liebsten OUGENWEIDE-LP (minus das "Warte-Cover", aber Cover waren eh nie ihre Stärke) sind die beiden Abschlussstücke. "Wintertanz" fängt gemütlich, aber bereits instrumental unheimlich vielschichtig an und dreht nach der Hälfte so richtig auf. Der Tanz wird immer schneller und wilder, die Teilnehmenden drehen sich immer noch ein wenig schneller und die Instrumente ziehen nach, dass es eine Lust ist.
"Einen gekrönten reien" in seiner Mischung aus Minnegesang und finsterem Memento Mori ist wiederum ebenso perfekt inszeniert. Erst leise, dann immer lauter anschwellend scheint der Wind den Paargesang der ersten Strophen heranzutragen, wie einen Abgesang aus fernen Zeiten. Erst nach einiger Zeit setzen eine erbarmungslos voranschreitende Trommel und ein Akkordeon (?) ein. Der Text wiederholt sich dabei einfach wie ein Mantra. Ein toller, gerade weil zum restlichen Album konträrer Abschluss.
Wintertanz:
https://www.youtube.com/watch?v=6RgJ9fRaX8U
Diesmal dauert es zwei Jahre bis zur nächsten Veröffentlichung. Eigentlich Veröffentlichung
en, denn neben den ausgedehnten Touren und regulären Albumarbeiten bindet man sich auch die musikalische Untermalung einer Eulenspiegel-Inszenierung in Tübingen ans Bein.
Zunächst erscheint aber mit "Ohrenschmaus" (eine ironische Anlehnung an den eigenen Bandnamen) DAS Hit-Album der Band schlechthin. Es hat sich einiges getan im Vegleich zum Vorgänger. Erstmals vertont die Band nicht nur mittelalterliche Originaltexte, sondern auch eigene Kreationen aus der Feder Olaf Casalichs. Gerade dessen Songs werden sich schon sehr bald zu den absoluten Klassikern der Band entwickeln. Dazu trägt auch die Instrumentierung bei, die nun wesentlich voller und moderner klingt. Achim Reichels knackige Produktion trägt dieser Fokusverschiebung Rechnung, klingt voll und trotzdem differenziert. Hatten OUGENWEIDE streng genommen auf den Vorgängern schon Folkrock (oder, wie sie es selbst nennen: Minne-Rock) gemacht, klingt "Ohrenschmaus" aber als erste Platte auch wirklich danach.
Eingeleitet vom triumphalen "Bombarde-Ment", mit eben diesen Instrumenten im Vordergrund, hauen OUGENWEIDE einen nach dem anderen raus. Egal ob man nun mehr auf die eigenen, eher erzählerischen Songs steht oder auf das klassische Liedgut: Hier findet jeder etwas. Beinahe schon gruselig auf welchem Niveau die Band hier musiziert. Egal an welcher Stelle man einsetzt, immer landet man direkt im nächsten Ohrwurm. "Ohrenschmaus" macht seinem Titel alle Ehre und ist gemeinsam mit seinem Vorgänger durch Einfluss, Spielfreude und der hörbaren Liebe zur Musik als unverzichtbar anzusehen, wenn man sich für das Genre interessiert.
Seltsam bleibt eigentlich nur, dass sich, trotz ihrer Beliebtheit, kaum eine ernsthafte Coverversion der Eigenkompositionen finden lässt. Eine der nennenswerten, weil interessanten stammt von ASP aus dem Jahr 2011, als die Band für ihr "Reboot" den Song "Bald Anders" coverte².
Album:
https://www.youtube.com/watch?v=d6bJ9BySDB0
Nach Veröffentlichung des "Ohrenschmaus"es begibt man sich auf die erste "richtige" Deutschlandtournee und bespielt alle Orte die nur möglich sind, gekrönt von einem Auftrit in der Berliner Philharmonie. Damals noch besonderer als heute, wenn man bedenkt, dass in den 70ern langhaarige Bombenleger noch genau dessen verdächtigt wurden. Die Besucher des Konzertes tanzen dann auch gleich so ausgelassen, dass sie die Hebebühne beschädigen, was dazu führt, dass Intendant Herbert von Karajan himself der Gruppe nach dem Konzert Hausverbot erteilt³. In den kommenden Jahren wird man bis 180 Jahre Konzerte pro Jahr bestreiten.
Im Dezember 1976 legen OUGENWEIDE mit "Eulenspiegel" nach. Die erste Seite der LP widmet sich dem Leben der titelgebenden Schwankfigur. Anlässlich einer Inszenierung des Tübinger Theaters komponierte die Band 5 Stücke für die Aufführung. Leider bin ich nie so recht damit warmgeworden. Den Stücken fehlt der melodische Aha-Moment, der Fokus auf den Liedtexten führt zu sehr statischen, wenn auch einmal mehr hervorragend gespielten Songs. Vielleicht muss man das Stück einmal mit den Songs zusammen erlebt haben. So ergibt sich leider der Eindruck vieler Soundracks bis heute: Nett, aber ohne die dazugehörigen Bilder und Szenen nicht mehr als das.
Die zweite Hälfte der LP wiederum enthält bewährtes OUGENWEIDE-Futter in Manier und Qualität des Vorgängers. Die Stücke klingen alle wie aus einem Guss und formen sozusagen die dritte Seite der "Ohrenschmaus". Das heutzutage bei den meisten Genrebands unvermeidliche Carmina Burana-Frühlingslied "Totus Floreo" bildet ein Highlight, ebenso "Durch den Ermel gat das Loch". Durch die verwendete Querflöte im Solopart klingt der Song leicht nach Jethro Tull und endet mit einem tollen Kanongesang der ganzen Band.
Durch den Ermel gat das Loch:
https://www.youtube.com/watch?v=CKrK5_sqgcI