Sünder ohne Zügel - Der Mittelalter-/Folk(rock/metal)-Thread

Um mal etwas gegen die simplen Dreiwort-Beiträge zu unternehmen, werde ich alle paar Wochen ml einen etwas längeren Abriss bedeutender und mMn empfehlenswerter Bands und Künstler dieses Genres posten. Ich hoffe es ist ok, wenn ich den Thread dafür kapere @BavarianPrivateer.

Wenn wir uns über das Genre "Mittelalterrock" und seine beeinflussten Nebenschauplätze unterhalten, hilft es natürlich die Ursprünge zu kennen. Wie in den meisten anderen Musikrichtungen auch gibt es natürlich mehrere Einflüsse, beinahe parallel ablaufende Gründungen wichtiger Bands und Vorgänger in Ästhetik und Performance.
Eine der aber unbestreitbaren Vorreiterbands sind ganz eindeutig

Ougenweide.png




Statement zur Lage der ganzen Musica - Vorbetrachtung


OUGENWEIDE wird im April 1970 gegründet. Es sind stürmische Zeiten in Westdeutschland (die ostdeutsche Entwicklung würde ich später noch einmal skizzieren, das sprengt hier sonst den Rahmen) und stürmische Zeiten sind der Kunst besonders förderliche. Auf der Suche nach einer kulturellen Identität, die nicht von den Nazis okkupiert und korrumpiert wurde, besinnt sich die (überwiegend studentische) Jugend der Zeit auf eigentlich längst vergessene Epochen und künstlerische Ausdrucksformen. Mit den Idealen der Wandervogel-Bewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts wie auch den liberalen studentischen Bewegungen des Vormärz findet man recht schnell zwei historische "Vorgänger", die von vielen als besonders nah am eigenen Zeitgeist empfunden werden. Die damit verbundenen musikalischen Trends, namentlich Folkmusik zu dieser Zeit, haben dadurch auch viel weniger vom heimeligen "Schrumm Schrumm" und viel mehr revolutionär empfundenen Ausdruck. Ihre kreativen Schmelztiegel findet die Szene auf den Folk-Festivals auf Burg Waldeck, wo Musik, Theater und provokante Perfomance zusammenfinden.

OUGENWEIDE nun greifen noch weiter in die Zeit zurück, indem sie sich bereits sehr frühzeitig auf die Epoche des Mittelalters und dessen musikalische Interpretation verlegen. Ganz neu ist das grundsätzlich auch damals nicht. Ensembles für mittelalterliche Musik existieren auch damals schon und es gibt auch bereits den ein oder anderen Folksänger, der einzelne Texte in sein Repertoire aufnimmt. Jedoch ist die musikalische Gestaltung in Verbindung mit Rockmusik bzw. dem Ausdruck dieser damals noch recht jungen Musikrichtung neu und wegweisend im deutschsprachigen Raum.



Rumet uz die Schäemel und die Stüele - Die goldenen Siebziger


Benannt nach einem Lied des Neidhart von Reuenthal* existiert die Band bis 1973 vor allem als Schüler- und Studentenband. Im selben Jahr wird das Debüt "Ougenweide" aufgenommen. Das Album ist noch sehr nah am klassischen Folk seiner Zeit und hat mit Brigitte Blunck und Renée Kollmorgen am Mikro, trotzdem auch Minn Graw und Olaf Cassalich bereits auf einigen Stücken singen, noch nicht das klassische OUGENWEIDE-Feeling. Trotzdem handelt es sich um ein sehr gutes, leichtfüßiges Album, dass bereits den musikalischen weg erkennen lässt, der vor der Band liegt. Vorallem das feine Gitarrenspiel wird mit den kommenden Veröffentlichungen weiter in den Mittelpunkt rücken. Ein Höhepunkt ist etwa der Solopart des Stückes "Es stount ein frouwe alleine". Mit "Der Sohn der Näherin" findet sich neben allem mittelalterlichem Liedgut bereits eine sozialkritische Eigenkomposition, wenn auch gerade dieses Stück mMn das einzige Schwachstück eines ansonsten sehr runden Albums bildet. Der experimentelle Abschluss "Es fur ein pawr gen holz" klingt dann in seiner beatgetriebenen Einfachheit schon fast wie ein Vorbote künftiger elektronischer Wege des Genres. In Extremo werden die Melodie später für ihr Stück "Werd ich am Galgen hochgezogen" auf der "Verehrt und angespien" (1999) verwenden. Auch verweisen möchte an dieser Stelle auf den kristallklaren Klang der Aufnahmen. Nach vielen Jahren und Jahrzehnten voll rauschender und weniger berauschender Aufnahmen im Folkbereich sind die Produktionen der ausgehenden 60er und 70er Jahre eine Wohltat und noch heute Referenz.

Album:
"Ougenweide" verkauft sich erstaunlich gut und katapultiert die Band bereits kurz nach Erscheinen an die Spitze der deutschen Folkszene. Schon während der Veröffentlichung des Albums treten die beiden Sängerinnen Renée und Brigitte aus der Band aus. Damit bleibt Minne Graw (übrigens kein Künstlername, die Frau heißt wirklich so) als einzige Frauenstimme des Ensembles. Dadurch etabliert sich das "klassische" Gesangsduo Graw/Casalich, dass sowohl extrem prägend als auch für manche ein absolutes No-Go ist. Denn wie sehr auch die Kombination aus Graws (übrigens nicht ausgebildeter) kraftvoller Sopranstimme und Casalichs nasaler Männerstimme für einen Wiedererkennungswert sondergleichen sorgt, so sehr nervt auch viele die eine oder andere oder gar beide.

Bereits ein Jahr nach dem Debüt erschien 1974 der Nachfolger "All die weil ich mag". Grundsätzlich bleibt man dem Stil des Vorgängers treu, nur gibt es von allem Guten jetzt einfach noch viel mehr. Ein wenig wie bei den ersten beiden IRON MAIDEN-Platten. Die melodische Ausarbeitung der Merseburger Zaubersprüche klaut noch heute ausnahmslos jede Band die diesen Text in ihr Repertoire aufnimmt. Ebenso jene des "Palästinalied"es, wofür die Band damals ordentlich auf den Deckel kriegt. Eine christlich verbrämte Kreuzzugspropaganda kommt in Zeiten der Friedensbewegung selbst dann nicht gut, wenn sie über 700 Jahr alt ist. Die luftig leichten Arrangements tragen viel zum Charme der Lieder bei, mehrmals bedient man sich textlich den im Mittelalter weit verbreiteten Fabeln. Absolute Highlights auf dieser meiner liebsten OUGENWEIDE-LP (minus das "Warte-Cover", aber Cover waren eh nie ihre Stärke) sind die beiden Abschlussstücke. "Wintertanz" fängt gemütlich, aber bereits instrumental unheimlich vielschichtig an und dreht nach der Hälfte so richtig auf. Der Tanz wird immer schneller und wilder, die Teilnehmenden drehen sich immer noch ein wenig schneller und die Instrumente ziehen nach, dass es eine Lust ist.
"Einen gekrönten reien" in seiner Mischung aus Minnegesang und finsterem Memento Mori ist wiederum ebenso perfekt inszeniert. Erst leise, dann immer lauter anschwellend scheint der Wind den Paargesang der ersten Strophen heranzutragen, wie einen Abgesang aus fernen Zeiten. Erst nach einiger Zeit setzen eine erbarmungslos voranschreitende Trommel und ein Akkordeon (?) ein. Der Text wiederholt sich dabei einfach wie ein Mantra. Ein toller, gerade weil zum restlichen Album konträrer Abschluss.

Wintertanz: https://www.youtube.com/watch?v=6RgJ9fRaX8U

3f9bfc6d53b64fb697302da8bf43b6e7.jpg


Diesmal dauert es zwei Jahre bis zur nächsten Veröffentlichung. Eigentlich Veröffentlichungen, denn neben den ausgedehnten Touren und regulären Albumarbeiten bindet man sich auch die musikalische Untermalung einer Eulenspiegel-Inszenierung in Tübingen ans Bein.

Zunächst erscheint aber mit "Ohrenschmaus" (eine ironische Anlehnung an den eigenen Bandnamen) DAS Hit-Album der Band schlechthin. Es hat sich einiges getan im Vegleich zum Vorgänger. Erstmals vertont die Band nicht nur mittelalterliche Originaltexte, sondern auch eigene Kreationen aus der Feder Olaf Casalichs. Gerade dessen Songs werden sich schon sehr bald zu den absoluten Klassikern der Band entwickeln. Dazu trägt auch die Instrumentierung bei, die nun wesentlich voller und moderner klingt. Achim Reichels knackige Produktion trägt dieser Fokusverschiebung Rechnung, klingt voll und trotzdem differenziert. Hatten OUGENWEIDE streng genommen auf den Vorgängern schon Folkrock (oder, wie sie es selbst nennen: Minne-Rock) gemacht, klingt "Ohrenschmaus" aber als erste Platte auch wirklich danach.
Eingeleitet vom triumphalen "Bombarde-Ment", mit eben diesen Instrumenten im Vordergrund, hauen OUGENWEIDE einen nach dem anderen raus. Egal ob man nun mehr auf die eigenen, eher erzählerischen Songs steht oder auf das klassische Liedgut: Hier findet jeder etwas. Beinahe schon gruselig auf welchem Niveau die Band hier musiziert. Egal an welcher Stelle man einsetzt, immer landet man direkt im nächsten Ohrwurm. "Ohrenschmaus" macht seinem Titel alle Ehre und ist gemeinsam mit seinem Vorgänger durch Einfluss, Spielfreude und der hörbaren Liebe zur Musik als unverzichtbar anzusehen, wenn man sich für das Genre interessiert.
Seltsam bleibt eigentlich nur, dass sich, trotz ihrer Beliebtheit, kaum eine ernsthafte Coverversion der Eigenkompositionen finden lässt. Eine der nennenswerten, weil interessanten stammt von ASP aus dem Jahr 2011, als die Band für ihr "Reboot" den Song "Bald Anders" coverte².

Album: https://www.youtube.com/watch?v=d6bJ9BySDB0

Nach Veröffentlichung des "Ohrenschmaus"es begibt man sich auf die erste "richtige" Deutschlandtournee und bespielt alle Orte die nur möglich sind, gekrönt von einem Auftrit in der Berliner Philharmonie. Damals noch besonderer als heute, wenn man bedenkt, dass in den 70ern langhaarige Bombenleger noch genau dessen verdächtigt wurden. Die Besucher des Konzertes tanzen dann auch gleich so ausgelassen, dass sie die Hebebühne beschädigen, was dazu führt, dass Intendant Herbert von Karajan himself der Gruppe nach dem Konzert Hausverbot erteilt³. In den kommenden Jahren wird man bis 180 Jahre Konzerte pro Jahr bestreiten.

Im Dezember 1976 legen OUGENWEIDE mit "Eulenspiegel" nach. Die erste Seite der LP widmet sich dem Leben der titelgebenden Schwankfigur. Anlässlich einer Inszenierung des Tübinger Theaters komponierte die Band 5 Stücke für die Aufführung. Leider bin ich nie so recht damit warmgeworden. Den Stücken fehlt der melodische Aha-Moment, der Fokus auf den Liedtexten führt zu sehr statischen, wenn auch einmal mehr hervorragend gespielten Songs. Vielleicht muss man das Stück einmal mit den Songs zusammen erlebt haben. So ergibt sich leider der Eindruck vieler Soundracks bis heute: Nett, aber ohne die dazugehörigen Bilder und Szenen nicht mehr als das.
Die zweite Hälfte der LP wiederum enthält bewährtes OUGENWEIDE-Futter in Manier und Qualität des Vorgängers. Die Stücke klingen alle wie aus einem Guss und formen sozusagen die dritte Seite der "Ohrenschmaus". Das heutzutage bei den meisten Genrebands unvermeidliche Carmina Burana-Frühlingslied "Totus Floreo" bildet ein Highlight, ebenso "Durch den Ermel gat das Loch". Durch die verwendete Querflöte im Solopart klingt der Song leicht nach Jethro Tull und endet mit einem tollen Kanongesang der ganzen Band.

Durch den Ermel gat das Loch: https://www.youtube.com/watch?v=CKrK5_sqgcI
 
In der folgenden Zeit tourt die Band so viel durch die Bundesrepublik und angrenzende Staaten, dass sich eine Wohnung kaum noch gerechnet haben dürfte. Die 1977 erschienene Doppel-LP "Ungezwungen" legt Zeugnis von den Livequalitäten der Band ab. Es folgten zahlreiche Auftritt im Ausland (u.a. in der Sowjetunion), ein Liederbuch und viele Auftritte im Rundfunk. Für die Dokumentationsreihe "Dokumente Deutschen Daseins" steuerte man Songs zu mehreren Folgen bei und veröffentlichte diese letztlich 1978.


Der Titel "Fryheit" ist Programm auf diesem Album. Nicht nur textlich verabschiedet man sich vom Mittelalter und mittelalterlich anmutender Lyrik, vertont stattdessen Texte aus der bewegten Kriegs- und Revolutionsgeschichte Deutschlands vom Bauernkrieg bis zur Revolution 1848. Auch musikalisch macht man einen großen Sprung und spielt sehr viel kompakter und rockiger auf als auf allen Alben zuvor. Zwar gibt es noch historische Instrumente und Melodien, aber lange nicht mehr so feingliederig. Erstmals wird großer Wert auf den Einsatz eines Chores gelegt, der wiederum zu einer größeren Kompaktheit der Musik führt. "Fryheit" ist eines dieser Alben die für mich das Prädikat "Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht" tragen. Denn bei aller musikalischen und kompositorischen Klasse: Mich hat dieses Album nie erreicht. OUGENWEIDE sind für mich vor allem keine Band des Aufruhrs, den die Stücke aber in ihrem Geiste tragen (das sollte sich übrigens in den 80ern noch einmal schwer rächen). So klingen sich Band und Liedgut immer etwas fremd und zu gewollt, entgegen des Titels ihrer voran gegangenen Live-LP zu gezwungen.
Auch hier könnte es helfen die Stücke im Kontext der Dokumentation zu sehen. Meine Begeisterung für die LP ist aber so gering, dass ich nie die Mühe unternommen habe das mal zu ändern. Immerhin: Das Album wird 2 Jahrzehnte später DIE SCHNITTER zu ihrer superben Folkpunk-Platte "Arg" (1999), einem Konzeptalbum über den Bauernkrieg, inspirieren.

Die Bauern sind aufrührig geworden:

Das nicht nur für OUGENWEIDE selbst, sondern für den Folk ganz allgemein goldene Jahrzehnt beschließt die Band mit dem Album "Ousflug" 1979.
Insgesamt kehrt man nach dem konzeptionellen Experiment "Fryheit" wieder zum gewohnten Stil zurück. Erstmals sitzt Achim Reichel im Studio nicht mehr hinter den Reglern. Die Produktion beeinflusst das nicht, wieder ist die Platte sehr auf den Punkt produziert und zeigt keine klanglichen Schwächen. Es gibt erneut eine Mischung aus historischen und eigenen Texten, hier vorallem das atmosphärische "Schöne Hexe" und der Abschluss und Live-Liebling "Lügenlied". Auffällig ist die hohe Anzahl instrumentaler Stücke. Ganze fünf Stücke (von insgesamt elf) sind komplett ohne Gesang, einige andere Stücke sind nur mit kurzen Gesangspassagen ausgestattet. Trotzdem nochmal eine sehr abwechslungsreiche LP, die alle Stärken der Band bündelt und den würdigen Abschluss der "klassischen" OUGENWEIDE-Diskographie bildet.

Schöne Hexe: https://www.youtube.com/watch?v=LvOD3j6ANtk

Als wollte die Band noch einmal klar machen, dass es das vorläufig erst mal war mit Minne-Rock, erscheint im selben Jahr noch eine Best Of in Polydors Liederbuch-Reihe. Eine gute Einsteigersammlung für die Zeit. Da sie aber keinerlei exklusives Material enthält und die Studioplatten als Vinyl wie auch CD gut erhältlich (und gerade in letzterer Form sehr gut aufgemacht) sind, ist diese Best Of nur wegen ihrer schicken Gestaltung was für Komplettisten.

1302973701-lola_ed016614-1ea7.jpg




Kein schöner Land - Die schwierigen Achtziger

1980 dreht die Band ihr bisheriges musikalisches wie textliches Konzept komplett auf links und spielt ab jetzt Rock mit sozialkritischen Texten. Der Wechsel macht sie durchaus erneut zu Vorreitern: Die noch Ende der 70er Jahre so erfolgreiche Folkszene wird innerhalb weniger Monate Anfang der 80er von der NDW bzw. dem was der Mainstream dafür hält bei lebendigem Leib gefressen und wieder ausgespuckt. Viele der einst erfolgreichen Bands lösen sich auf, versuchen sich (meist erfolglos) an Stilwechseln (gern in Richtung Kabarett) oder spielen ihren Stiefel ab jetzt beinahe unter Ausschluss der Öffentlichkeit runter. Lediglich im wandelnden Klischee des singenden Sozialpädagogen, der mit erhobenen Zeigerfinger Gitarre spielen und sein Publikum belehren kann, lebt ein Teil der Szene mit moderatem Erfolg in diesen Jahren.


1980 also vollziehen OUGENWEIDE schon einmal den Wechsel bevor alle es machen. "Ja-Markt" heißt das Ergebnis und so müde der Wortwitz im Titel, so durchwachsen ist auch musikalische Ergebnis. Der Opener "Ich bin ein Folk-Freak" mag musikalisch noch nach altem Stil klingen, planiert die bisherige Bandgeschichte aber textlich. Puh, da scheint sich ja einiges angestaut zu haben. Und spätestens beim zweiten Song "Wie der Aufstand der Wehrhufer seinen Anfang nahm" ist dann auch die musikalische Änderung zu hören. E-Gitarre statt Mandoline ist angesagt. Das macht die Band zugegebenermaßen auch gar nicht so schlecht, zumal Flöten (Hallo, Jethro Tull!) und Xylophon weiterhin mitspielen dürfen. Trotzdem: So richtig stimmig greift das hier letztlich nicht mehr ineinander. Und Songs wie "Krokodile sind keine Vögel" oder "Heimat und so..." sind übelster 80er-Sozialkritikpief. Die Band kriegt ihren (Über-)Mut auch bald schon quittiert. Nicht nur nehmen die Spannungen in den folgenden Jahren innerhalb der Band zu, "Ja-Markt" verkauft sich nur mäßig und setzt dem bis dato Höhenflug ein jähes, empfindliches Ende.

Wie der Aufstand der Wehrhufer seinen Anfang nahm: https://www.youtube.com/watch?v=o5Lw9ikA_kU


Im folgenden dann die letzte Studioplatte vor dem Knall und ich mache es kurz. "Noch aber ist April" ist ganz ohne Zweifel der absolute Tiefpunkt. Die musikgewordene Kapitulation vor dem vorherrschenden Zeitgeist und seinem Musikmarkt. Es gibt, bis auf die zwei instrumentalen Stücke nichts an diesem Album was positiv erwähnenswert wäre. Geradezu erschreckend wie wenig Olaf Casalich an manchen Stellen nach sich selbst klingt, lediglich Minne Graw bleibt ihrem Timbre treu. Die Hinzunahme von Synthesizern zerpflügt den seit dem Vorgänger ohnehin schon etwas matschigen, ziellosen Sound vollends. Die absolute Frechheit stellt der letzte Song der Platte und damit der Band für über 10 Jahre dar. "Knopp im Ohr" ist 80er-Käse in Konzentration und gesegnet mit einem beschissenen Text.
So vernichtend wie ich es beschreibe sahen das Ergebnis letztlich auch die potentiellen Käufer und verschmähten das Album, was der Band letztlich ihren Plattenvertrag kostete. So schade wie es auch ist und so steil ihr Abstieg auch war: Mit diesem Machwerk hatten sich die Brüder Wulff und Gefährten jenseits des veränderten Geschmacks im Mainstream ihren Rausschmiss redlich verdient.

Album: https://www.youtube.com/watch?v=EBEqvRooPwE


Nach dieser kreativen Bankrotterklärung bringt Polydor noch fix eine weitere Best Of "Lieder aus 9 Jahrhunderten" auf den Markt. Die Anordnung der Songs nach Alter des Quellmaterials ist ganz spannend und gnädigerweise werden die letzten beiden Alben außen vor gelassen. Dennoch sind auch diese 4 LPs nur für Komplettisten interessant.

OUGENWEIDE selbst touren noch bis 1985 und lösen sich dann nach einer Abschiedstournee auf, die ihrerseits fast noch zum weiteren Fortbestand der Band geführt hat. In den kommenden 10 Jahren streben die Bandmitglieder in recht verschiedene Richtungen. Die Wulff-Brüder gründen das O'ton-Studio, produzieren dort so unterschiedliche Bands wie BLUMFELD, TIGER LILLIES oder LOU REED. Olaf Casalich wird Trommellehrer und tritt (übrigens bis heute) auf Mittelaltermärkten mit Soloprogrammen und OUGENWEIDE-Stücken auf. Minne Graw verschwindet vollends vom Erdboden nachdem eine selbst produzierte CD 1987 kein Plattenlabel zur Veröffentlichung findet.

Immer wieder wird eine Wiederbelebung der Gruppe angeregt, doch nie kommt es wirklich dazu.

hqdefault.jpg
 
Gaudete! - Wiedergeburt in den Neunzigern



Fast Forward in die Mitte der 90er. Weltmusik ist in und die Verbindung von Rockmusik mit mittelalterlichen Instrumenten und Texten hat schon längst ein Eigenleben entwickelt, auch wenn die große Flut erst noch kommen sollte. Da tauchen plötzlich OUGENWEIDE aus der Versenkung wieder auf. Zwar ohne Minne Graw und Jürgen Isenbarth, dafür aber gleich mit Chorquintett und Streichensemble!


"Sol" heißt die Frucht dieser erneuten Zusammenarbeit der Folkrock-Pioniere und erscheint 1996 15 Jahre nach dem letzten Studioalbum der Band. Wer aber gehofft hat, dass die Band zu ihren lockeren Folkrock-Wurzeln zurückkehrt, sieht sich getäuscht. Stattdessen gibt es kunstreiche Instrumentale auf der Gitarre verbunden mit Chorgesang, Streichern (die leider oft nach Synthies klingen) und im Weltmusikstil. Das ist kompetent gespielt und toll arrangiert. So richtig Begeisterung mag aber nicht aufkommen. Wie das eben so ist mit Comeback-Platten, die dann doch nicht nach der Band klingen die man eigentlich vermisst hat. "Sol" hat natürlich eine ganz eigene, manchmal geradezu meditative Klasse. Um die zu erkennen und zu schätzen, muss man aber schon länger zuhören. Eine Platte für den Genuss nebenbei ist das Album keinesfalls und stellt den Ausflug in die E-Musik für die Band dar. Wer jetzt noch Bock auf die Platte hat, sollte sie sich mal zu Gemüte führen. Es ist definitiv und trotz der zwei Vorgänger das "andere" Album in der Diskographie dieser Band. Ich wurde bis heute nicht so recht warm damit, werde es aber demnächst mal wieder hervorkramen und hören wie es sich heute zwischen uns verhält.

Tourdion:


Bis auf wenige Konzerte nach dem Erscheinen des Albums hat die Bandkonstellation diesmal keinen langen Bestand und zerbricht bereits im folgenden Jahr. Danach ist erstmal auf Jahre wieder Ruhe im Karton. Zwar lernen sich Frank Wulff und die zukünftige Sängerin Sabine Maria Reiß bereits 2000 kennen und fangen schon den Folgejahren an am OUGENWEIDE-Comeback zu feilen. Die Öffentlichkeit erfährt davon zunächst aber nichts.


Zittert, zittert, blöde Toren! - Das neue Jahrtausend



Den nächsten Eintrag in der Bandvita markiert 2004 "Wol mich der Stunde", ein Livealbum der besonderen Art. Es versammelt Livetracks aus allen Phasen der Band, vorallem der 80er, enthält drei exklusive Stücke und bietet mit dem Bandstück "Ougenweide" in einer Uraltversion von 1970 und in einer wavig-rockigen von 1984 sowas wie eine Klammer der Bandgeschichte. Das Album verkauft sich (scheinbar auch zur Überraschung der Band selbst) sehr gut. In Originalbesetzung mit Minne Graw spielt man ein exklusives Releasekonzert im Hamburger "Knust". Aus geplanten 20 Minuten Konzert wurden letztlich 90 Minuten, so groß war die Begeisterung bei Band wie Publikum. Im Folgejahr veröffentlichte man mit "Ouwe war" sozusagen den zweiten Teil des Livearchivs. Wieder umspannt die CD die gesamte Lebensdauer der Band bis 1984, allerdings ist die Soundqualität vergleichsweise bescheiden.


ougeconcert3.jpg


In den Folgejahren tauchen immer mal wieder "neue" Songs auf Samplern (unter anderem auf IN EXTREMOS "Kein Blick zurück") auf. Meist mit Minne Graw am Mikro, obwohl sie eigentlich nur noch als Gast fungiert und Sabine Reiß bereits die "richtige" Sängerin ist. Ende 2009 dann verdichten sich die Zeichen, dass es nach bermals 14 Jhren wieder soweit ist: Ein neues Studioalbum. Es wird im April 2010 erscheinen.
Dann der Schock: Am 19. März 2010, knapp einen Monat vor Release, verstirbt Frank Wulff im Alter von nur 58 Jahren.

Das im folgenden Monat erscheinende Album "Herzsprung" kann also als sein Vermächtnis begriffen werden und wirklich bündelt es nochmal alle Phasen und Stärken dieser Band in einem letzten wehmütigen, doch positiven Werk. Sabine Maria Reiß ist eine exzellente Wahl als Sängerin (auch wenn sie ansonsten eher kritisch zu sehen ist). Die Songs wandeln zwischen klassischem OUGENWEIDE-Material und der experimentellen Seite der Band, etwa bei "Ein leis und traurig Lied". Ein viel zu früher, aber immerhin künstlerisch würdiger Abschied von dieser deutschen Ausnahmeband. Ich verweise hier mal erneut auf die ASP-Fußnote, da Herr Spreng wirklich schöne Worte findet, die ich erstaunlicherweise an vielen Stellen komplett unterschreiben kann.


Herzsprung: https://www.youtube.com/watch?v=QjCFEIygOyg


0010403898_10.jpg



Bald anders - Abschluss

Damit endet das Kapitel OUGENWEIDE in der deutschen Musikgeschichte. Jeder der heutzutage in der Folk-/ Folkrock-/ oder Mittelalterirgendwas-Szene unterwegs ist, kennt mindestens 3 Arrangements aus der Feder dieser Band, die ihm als authentisch historisch verkauft werden. Und jeder, der sich noch nicht mit ihr befasst hat und Interesse an den genannten Genres und Hörbeispielen hat, sollte das Kennenlernen dringend nachholen. Im Zuge des großen Erfolgs der beiden Live-CDs 2004 und 2005 hat das Label Bear Family Records alle Alben der Band exklusive "Sol" noch einmal neu aufgelegt, dabei immer 2 Alben pro CD. Die Wiederveröffentlichungen sind vorbildlich remastert, kommen mit sehr dicken und informativen Booklets und sollten in keinem Folk-affinen Haushalt fehlen. Die Vinyls kriegt man ohnehin hinterhergeworfen. Es gibt also keine Ausrede. ;)


Hier nochmal mein persönlicher Listenwahn zu den Studioalben:

Ougenweide - 08/10
All die weil ich mag - 10/10
Ohrenschmaus - 10/10
Eulenspiegel - 07/10 (05/10 erste Hälfte - 09/10 zweite Hälfte)
Fryheit - 06/10
Ousflug - 09/10
Ja-Markt - 05/10
Noch aber ist April - 02/10
Sol - 05/10
Herzsprung - 08/10


Fußnoten:


* Originaltext Neidhart von Reuental "Ougenweide": https://angerweit.tikon.ch/lieder/lied.php?src=mittelalter/ougenweide

² Herr Spreng findet hier, egal wie man sonst zu ihm und seinem Schaffen steht, einen sehr schönen Ton für seine Begeisterung. Kann diesen journalbeitrag nur jedem ans Herz legen, der noch etwas Herzblut lesen muss um es mit OUGENWEIDE mal zu probieren. -> https://www.aspswelten.de/archive/journal/49-bald-anders

³ Website von Minne Graw mit allerlei Anekdoten und Infos. Powered by fürchterliches Farbdesign. -> http://www.minnegraw.de/#ougenweide




Danke fürs Lesen und bei Gefallen bis bald auf diesem Sender. :)
 
Allen, denen bei In Ex, Subbes und Konsorten so ein bisschen der letzte Metalpunch fehlt möchte ich mal ganz gern meine Freunde von CANTUS LEVITAS nahelegen. Haben heute ihr neues Album Auf Grund veröffentlicht, und da sind mächtig Knaller drauf, wie der hier:

 
Also vor gut 13-14 Jahren war das genau meine Musik. Die erste CD die ich jemals gekauft habe, war Schandmaul-Narrenkönig. Und dann ging es schnell weiter mit Subay to Sally, Tanzwut, Saltatio Mortis, Letzte Instanz und auch The Inchtabokatables. Ich glaube das ein oder andere Album hab ich noch in der Sammlung, wenn auch ewig nicht mehr gehört. Subway to Sally war da lange mein Favorit, vor allem die MCMXCV und die beiden Nachfolger. Allerdings wurde mir das dann mit den folgenden Alben schnell zu modern (von Sound her). Bin dann aber auch schnell weiter in die Grufti-Ecke, 1-2 Jahre später waren dann Goethes Erben mein Ding.

Unabhängig davon muss man denke ich unterscheiden zwischen gut gemachten Scheiben, oftmals noch aus den 90ern und alle dem, was durch die „Partywelle“, dann ab Mitte 2000er so aufgekommen ist. Da haben leider auch einige alt eingesessene Bands ziemlich schnell mitgemacht.
 
Es wird um Definition gebeten.

Für mich ist Mittelalter-Musik ab einem bestimmten Punkt (denke vor allem breiterer Erfolg unter jungen Menschen) zu einem Sauf- und Klamauk-Genre mutiert. Das sieht man bei Saltatio Mortis und vielen anderen Bands auch. Und das haben einige Bands schon bewusst mitgetragen. Subway To Sally lief mit Sieben 2005 teilweise auf Pro7. Würde sagen, dass ab dem Zeitpunkt das Genre schon ziemlich populär wurde und man viele Eigenheiten aufgegeben hat um medial erfolgreicher zu sein. Hat bei vielen ja auch funktioniert. In Extremo, Subway To Sally und Saltatio Mortis sind dafür beste Beispiele.
 
Für mich ist Mittelalter-Musik ab einem bestimmten Punkt (denke vor allem breiterer Erfolg unter jungen Menschen) zu einem Sauf- und Klamauk-Genre mutiert. Das sieht man bei Saltatio Mortis und vielen anderen Bands auch. Und das haben einige Bands schon bewusst mitgetragen. Subway To Sally lief mit Sieben 2005 teilweise auf Pro7. Würde sagen, dass ab dem Zeitpunkt das Genre schon ziemlich populär wurde und man viele Eigenheiten aufgegeben hat um medial erfolgreicher zu sein. Hat bei vielen ja auch funktioniert. In Extremo, Subway To Sally und Saltatio Mortis sind dafür beste Beispiele.

Würde ich nicht so sehen, vor allem nicht bei SALTATIO MORTIS. Vor allem auf den letzten beiden Alben haben sie durchaus einige politik- und gesellschaftskritische Texte verfasst. Von reiner Klamauksache kann man da wirklich nicht reden.
 
Würde ich nicht so sehen, vor allem nicht bei SALTATIO MORTIS. Vor allem auf den letzten beiden Alben haben sie durchaus einige politik- und gesellschaftskritische Texte verfasst. Von reiner Klamauksache kann man da wirklich nicht reden.

Für mich ist das Klamauk, vielleicht auch, weil ich das bei denen einfach nicht ernst nehmen kann. Mal von der Banalität der Texte und Aleas quälender Stimme abgesehen. Und ja, solche banalen politischen Texte sind heute sehr modern und wirklich nix besonderes. Denke aber, dass du das gerne anders sehen kannst.
 
Würde ich nicht so sehen, vor allem nicht bei SALTATIO MORTIS. Vor allem auf den letzten beiden Alben haben sie durchaus einige politik- und gesellschaftskritische Texte verfasst. Von reiner Klamauksache kann man da wirklich nicht reden.

Und sich gleichzeitig meilenweit vom hier besprochenen Genre in Richtung Deutschrock bewegt. Auch so ein derzeitiger “Trend“ der Szene. InEx haben es bereits hinter sich mit dem schauderlichen “Kunstraub“, StS sind mal wieder lost in translation und so gibt es noch einige Beispiele.
 
Und sich gleichzeitig meilenweit vom hier besprochenen Genre in Richtung Deutschrock bewegt. Auch so ein derzeitiger “Trend“ der Szene. InEx haben es bereits hinter sich mit dem schauderlichen “Kunstraub“, StS sind mal wieder lost in translation und so gibt es noch einige Beispiele.
Ja, dass es den Trend gibt das stimmt schon. IN EXTREMO haben da diese Entwicklung wieder hinter sich, "Quid pro quo" geht ja wieder deutlich in Richtung der alten Sachen.
 
Zurück
Oben Unten