BRAVE NEW WORLD
Erschienen: 29.05. 2000
Produzent: Kevin Shirley
Studios: Le Guillaume / Paris
Als ich 1999 im Metal Hammer in den News vernommen habe, dass Bruce und Adrian wieder in die Band zurückkehren würden, wollte ich dies kaum glauben. Ich habe grade meinen Frieden mit Blaze Bayley gemacht und damals Virtual XI wirklich vergöttert – wie wir wissen, sehe ich das heute sehr viel differenzierter. Ich fragte mich, wie Maiden mit Bruce anno 1999 / 2000 klingen würden.
Mein Bruder schenkte mir zum 16. Geburtstag im September 1999 Karten für den Maiden-Gig mit Megadeth in Essen. Es war mein erstes Maidenkonzert und es war für mich eine Offenbarung, Bruce und Adrian wieder spielen zu sehen mit ihren alten Bandkollegen. Ich war hin und weg, auch als Bruce sehr souverän die Blaze Songs The Clansman, Man On The Edge und Futureal gesungen hat. Die Gitarren bildeten eine dichte Soundwand und ich konnte kaum abwarten, endlich wieder ein Studioalbum von Maiden zu hören in der klassischen Smith Dickinson McBrain Murray Harris + Gers Besetzung. In den 80ern litt ich unter der Ungnade der späten Geburt und daher war es mir nie vergönnt, Maiden in ihrer Hochphase live zu erleben. Dass mit der Rückkehr von Bruce und Adrian für Maiden der zweite Frühling eingeleitet werden würde und das folgende Reunion Album Brave New World 14 Jahre später schon als ähnlicher Klassiker in der Banddiscographie gelten würde, wie damals Powerslave oder Piece Of Mind, war noch gar nicht absehbar.
Im Metalhammer wurde damals viel spekuliert und Andreas Schöwe schrieb sich da stellenweise ziemlichen Senf zusammen. Das neue Maidenalbum würde The Return Of The Wicker Man heissen und wie Piece Of Mind klingen, sogar vom Deep Purple Cover Highway Star als Singleauskopplung war die Rede, wohingegen in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, kurz WAZ bereits der richtige Albumtitel angekündigt wurde. Ich glaube, die Schlagzeile hiess „Flaggschiff des Heavy Metals wieder auf Kurs“ oder so – sogar mit Foto von Bruce, Steve und Janick und einem ausführlichen Interview über das in wenigen Monaten bevorstehende Konzert im Georg Melches Stadion unter dem Motto Metal 2000 mit Motörhead und Slayer. Daraus wurde aber nichts, da Janick einen Tag vor dem Gig in Mannheim beim Posen von der Bühne geplumpst ist. Insgesamt ist diese sportlich unglückliche Primaballerina neben Steve Harris musikalisch als treibende Kraft auf dem neuen Album anzusehen, da erstaunlich viele und sogar ausserordentlich herausragende Songs aus Janicks Feder stammen, während Adrian sich im Songwriting noch deutlich zurückgehalten hat.
Im Metalhammer wurden fünf Songs nach einer privaten Listeningsession im Sportwagen von Bruce Dickinson von Herrn Schöwe ausführlich besprochen. Songs wie The Mercenary wurden als mörderisch brutale Nackenbrecher angepriesen, Blood Brothers als das neue Fear Of The Dark und The Wicker Man als das neue 2 Minutes To Midnight. Spätestens da wurde ich hellhörig und konnte wochenlang Nachts nicht mehr schlafen, fieberte dem Erscheinen des Albums entgegen, mir hing schon der Sabber aus dem Mundwinkel wie Homer Simpson beim Donutessen. Rückblickend erscheint Schöwes kritikloses Geschreibsel natürlich ziemlich peinlich und unreflektiert. Ich habe die Scheibe am Tag des Erscheinens morgens VOR der Schule bereits bei Karstadt gekauft und habe den ganzen Tag im Unterricht nicht aufgepasst, weil ich so hibbelig war auf das Album. Das Cover hat mich neugierig gemacht, aber mich hat gestört, dass das Iron Maiden Logo unten abgeschnitten war, wie auch bei Virtual XI. Die spitzen Verlängerungen unten beim R, beim N und beim M waren weg. Den Song „The Wicker Man“ durfte ich bereits einige Tage vor Erscheinen des Albums auf RTL bei Top Of The Pops im Playback geniessen, damals moderiert von Oliver Geissen. Das waren aufregende Zeiten für mich. Nach Jahren der Diskriminierung wegen meines Musikgeschmackes wurden Maiden in der Presse wieder hoffähig, wenige Wochen vorher wurde das neue AC/DC Album Stiff Upper Lip von Stefan Raab auf TV Total beworben, wo er Highway To Hell auf der Ukulele gespielt hat, nachdem er Angus Young in einem Hotel interviewt hat, in einer stinknormalen Tageszeitung im Ruhrgebiet, die von Millionen Menschen gelesen wurden, durfte ich Maiden im Kulturteil bewundern und nun endlich öffentlich stolz sein, Maiden zu mögen.
1. The Wicker Man (Smith / Harris / Dickinson) leitet das Album mit einem knackigen und erdigen, aber sehr sehr simplen Riff aus Adrians Feder ein. Dem Riff fehlt die raffinierte Komplexität, wie etwa bei 2 Minutes To Midnight, Back In The Village oder Sea Of Madness. Insgesamt wirkt das Riff wie eine schnelle Version von Prowler oder 22 Acacia Avenue. Dazu wuchtige Toms und eine ziemlich blechern klingende Snaredrum. So klingen Maiden also nach der Jahrtausendwende. Ich finde die flinken Strophen und auch den poppigen Refrain ziemlich geil, Bruce hat die mehrjährige Soloexkursion stimmlich merklich gut getan, aber beim Gitarrensolo in der Mitte hätte Adrian ein wenig mehr aus sich herausgehen können und spielt ziemlich verhalten. 9/10 sind aber drin. Damals habe ich das Lied abgefeiert und kann es auch heute noch tun. Der Videoclip übrigens ist auch ziemlich großartig. Den namensgebenden Film von 1974 mit Christopher Lee kann ich übrigens nur sehr empfehlen. Für den amerikanischen Markt wurde eine Single ausgekoppelt, die beim
Refrain etwas von der Albumversion abweicht und interessante Backgroundchöre eingesetzt. Ich finde das sehr gelungen und schade, dass es nicht genau so auch auf dem Album Verwendung fand.
2. Ghost Of The Navigator (Gers / Harris / Dickinson) wurde damals im Metal Hammer als würdiger Nachfolger von Rime Of The Ancient Mariner angekündigt, mit einer Prise Alexander The Great... ich frage mich, ob Schreiberling Schöwe damals bei der Pre-Listening Session die gleichen Songs gehört hat, wie ich auf dem vorliegenden Album. Die textliche Thematik ist sicherlich maritim und nautisch, allerdings sehe ich musikalisch kaum Parallelen zu ROTAM oder ATG. Eher sieht man hier sehr deutlich den Einfluss von Bruce Dickinson solo durchschimmern. Rückblickend sind durchaus Ähnlichkeiten mit Accident Of Birth oder Darkside Of Aquarius auszumachen. Das „ich mache jetzt wieder Metal und mein alter Freund Adrian ist wieder mit dabei“ - Comebackalbum von Bruce war mir damals nur vom Hörensagen bekannt. The Chemical Wedding hingegen habe ich mir ein Jahr vor Brave New World bereits gekauft und ich konnte durchaus erkennen, dass einige der schrägen Gesangslinien in der Bridge zwischen der Strophe und dem Refrain durchaus die experimentellen und verwegenen Vibes atmen, die Bruce zusammen mit dem Tribe Of Gypsies Gitarrero Roy Z ausgearbeitet hat. Zwar stammt Ghost Of The Navigator aus der Feder von Janick, aber Bruce hatte hier kompositorisch sehr deutlich die Finger im Spiel. Das Lied beginnt recht ruhig und verhalten, das kurze und verträumte Dudel-Intro geht aber sehr schnell in ein treibendes, nach vorne peitschendes Riffgewitter über und die sehr ausladende Kadenz Bridge-1 / Bridge-2 / Refrain nimmt mehr Raum ein, als die Strophen. Was genau dort der Refrain ist, weiss ich nicht. „I See The Ghost Of Navigators, but they are lost“ oder das großartige „Take My Heart And Set Me Free“? Ich tendiere zu letzterem, würde ersteres als Pre-Refrain einordnen und die schrägen Melodien vorher als Bridge. Das Gitarrensolo von Janick ist abgefahren, wild und dennoch strukturierter als seine Soli aus den 90ern. Großartiger, sehr energiegeladener Song. Chapeau. 9,5/10
3. Brave New World (Murray / Harris / Dickinson) beginnt mit einem ausladenden, sehr balladesken und verträumten Intro aus sich überlappenden, clean gespielten Gitarrengespinsten, die erst sehr spät in den schnelleren Teil des Songs überleiten. Den Refrain finde ich ziemlich einfallslos und flach, die Strophen aber absolut überragend. Bei Maiden sind die Strophen oft spannender, als der Refrain. Hier ist wieder ein herrausragendes Beispiel dafür. Die Soli tragen eindeutig die Handschrift von Dave Murray, die Gitarrenmelodien im Intro ebenso. Insgesamt kann man dieses Lied hinsichtlich seines Aufbaus und sich ähnelnder Melodien durchaus mit Still Life von der Piece Of Mind – wie aufmerksame Leser meines Threads wissen, ebenso eine Murray Komposition – vergleichen. Bis auf den schwachen Refrain ist das Lied durchweg bockstark und spannend arrangiert, könnte aber eine Idee straffer sein. 9,5/10
4. Blood Brothers (Harris) ist dann der legitime Nachfolger von Fear Of The Dark- so MH Pudelfrisur Schöwe damals euphorisch.. ich finde, das Lied ist zu unbekümmert und fröhlich, um auch nur im Entferntesten an FOTD zu erinnern. Insgesamt erkenne ich hier deutliche Parallelen zu Black Rose von Thin Lizzy. Die keltisch angehauchten Melodiebögen, der beschwingte Schunkelrhythmus, die gesamte melodramatische, süßliche Grundstimmung des Originals schimmern hier ziemlich offensichtlich durch. Der Refrain ist ähnlich simpel und flach, wie beim Titelsong des Albums. Die Strophen sind jedoch ziemlich ergreifend. Am schönsten finde ich jedoch den sehr melancholischen Mittelpart nach dem ersten Solo und dem sehr nachdenklichen Gesangseinschub Dickinsons. Das ist einer dieser großartigen Maidenmomente, die ziemlich prägnant die Handschrift Steve Harris tragen, der hier seine einzige ausschliesslich aus seiner Feder stammenden kompositorischen Beitrag leistet, während bei jedem anderen Song mindestens ein weiteres Bandmitglied mit am Ball war, meistens Janick, Bruce oder Dave. Das Lied ist für Maiden bis dato in der Tat sehr ungewöhnlich gewesen, deutet aber an, in welche Richtung sich Maiden entwickeln würden. Im Rückblick wirkt das Lied nicht mehr so aussergewöhnlich, wie damals. Textlich hat sich Steve Harris fast übertroffen und sieht man vom nervigen Refrain ab, so kann man mit Fug und Recht knappe 9/10 vergeben. Das Intro vom akustischen Bass kann ich inzwischen auswendig auf selbigen nachspielen. Ich bin stolz auf mich.
5. The Mercenary (Gers / Harris) erinnert mich an eine härtere und kraftvollere Version von Futureal. Es geht direkt mit einem Faustschlag in den Nacken los, kein Intro, sondern das Riff und das sehr prädominante Schlagzeug mit der penetranten Snare setzen unvermittelt ein. Die Strophen singt Bruce ähnlich heiser und aggressiv, wie damals zu Fear Of The Dark Zeiten, aber bei der Bridge und beim Refrain zeigt er, dass es nur ein kurzer Ausflug in die unrühmliche „ich hab keine Lust und will viel lieber was Alleine machen“-Vergangenheit war. Die aggressiven Strophen sind in meinen Augen so lala, der Refrain aber ziemlich überragend, auch wenn er zu oft wiederholt wird. Das Solo in der Mitte und die recht fröhlichen Melodiebögen stehen etwas im Kontrast zu dem Song, der insgesamt recht düster daherkommt. Neben The Wioker Man und dem noch folgenden The Fallen Angel der schnellste Song des Albums und auch der Härteste. 8,5/10 mit leichter Tendenz nach oben.
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tbc...