Ich habe die frühen und Mittneunziger völlig anders erlebt. Es waren paradiesische Zeiten, eigentlich die besten Zeiten aller Zeiten, ähem. Alles ging, nix musste. Es gab - von der damals kaum wahrgenommenen Klimakrise mal abgesehen - keinerlei echte Bedrohungen. Das bisschen Operation Wüstensturm wurde in Europa nur am Rand wahrgenommen, und als Bill Clinton ins Amt kam, hatte Al Jourgensen keine Feindbilder mehr und konnte sich voll und ganz nur noch auf Heroin konzentrieren. Das Ergebnis: zwei gleichermaßen kaputte wie auch brillante Ministry-Alben (Filth Pig, Dark Side Of The Spoon).Welche prägenden (gesellschaftspolitischen) Ereignisse verbinde ich mit den 90er Jahren und wie habe ich mich damals als Jugendlicher gefühlt?
Die Freude über die Einheit war bei mir sehr groß, da meine Mutter aus der DDR stammte und endlich die lang ersehnte Wiedervereinigung kam, die niemand für möglich gehalten hatte. Aber nach der Einheit kam auch schnell die Ernüchterung. Viele Ostdeutsche verloren ihre Arbeit und riesige Probleme - politische, wirtschaftliche, soziale, rechtliche - mussten in kurzer Zeit gelöst werden. Kohls "blühende Landschaften" waren eine Illusion. Damals war alles sehr unsicher. Im Rückblick ist es eine enorme Leistung, wie gut die Wiedervereinigung politisch, rechtlich und wirtschaftlich funktioniert hat. Leider überwiegend auf Kosten der Ostdeutschen (Stichwort: Treuhand) und auf sozialer Ebene hat die Politik meines Erachtens völlig versagt, was bis heute spürbar ist.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion entstanden neue Unsicherheiten und Krisenherde in Europa, die in den menschenverachtenden Massakern in Jugoslawien gipfelten.
Innenpolitisch schien Mitte der 90er Jahre in Deutschland alles gelähmt und die Menschen wünschten sich einen Wandel. Hinzu kamen Anschläge auf Ausländer*innen und die Städte Hoeyerswerda, Rostock, Solingen oder Mölln erlangten traurige Berühmtheit.
@Zadok Wenn du schreibst, dass "ein Zigarrenschwinger im Weißen Haus und ein harmloser Säufer in Moskau" dir das Gefühl gegeben haben, dass die Zeiten rosig sind, dann hat es bei mir genau das Gegenteil ausgelöst. Ich hatte große Zweifel, wie ein netter Typ, der aussieht wie Chevy Chase, und ein lächerlicher Alkoholiker die Probleme einer sehr unsicheren Welt lösen sollen.
Mein Gefühl in den 90er Jahren war geprägt von Oberflächlichkeit. Der Mensch musste nur funktionieren und Leistung bringen. Die Welt war für mich emotional kalt geworden. Euro-Dance-Müll machte mich schlecht gelaunt, in der Klasse gab es plötzlich einen Punktewettbewerb, ein Geifern nach guten Noten, mein Vater empfahl mir, Ingenieur zu werden, weil ich damit am besten meinen Lebensunterhalt sichern konnte, und als ich dann 97 durchs Abi fiel, verabschiedete mich der damalige Arschlochdirektor mit den Worten "Handwerk hat goldenen Boden" und schickte mir sein dämliches Grinsen bei einem feuchten Händedruck hinterher.
Zum Glück hatte ich damals Kontakt zu Leuten aus allen "Bildungsschichten". Im Sommer habe ich beim Gerüstbau gejobbt und konnte mir so meinen ersten Bass-Verstärker finanzieren. Da ich bereits damals in Bands gespielt habe, hatte ich Kontakt zu "normalen" Menschen, die nicht studiert haben und für mich damals mehr vom Leben wussten, als mir die Lehrer damals einzureden versuchten.
Die äußere Welt, gepaart mit meiner inneren persönlichen Unsicherheit und dem Mangel an Ideen, was ich in Zukunft machen sollte, ob ich einen Beruf ergreifen oder ganz zum Schluß doch versuchen sollte, das Abitur nachzuholen, zog mich direkt zum Grunge, der mir Antworten auf meine Gefühle und Gedanken geben konnte. Ich weiß noch genau, wie ich die Schule geschwänzt habe, um mir die Vitalogy von Pearl Jam zu kaufen.
Meine persönlichen rosigen Zeiten begannen erst Ende der 90er Jahre. Abi nachgeholt, der FCK wurde Deutscher Meister, 10 Monate Bundeswehr, Ausbildung zum Schreiner begonnen und später konnte ich sogar studieren mit eigenem Zimmer in einer sehr coolen WG. Da war für mich der Grunge zu Ende, ich hatte ein gesundes Selbstvertrauen und tauchte dann ganz tief in den Heavy Metal ein.
Jetzt haben wir 2024 und ich dachte, wir hätten viele Probleme überwunden, aber irgendwie fühle ich mich langsam wieder wie in den 90er Jahren. Die Welt ist heute genauso unsicher wie damals, und vielleicht ist es kein Zufall, dass ich mich plötzlich wieder für Grunge interessiere.
Im Grunge ging es viel mehr um individuelles Innenleben und individuelle Ängste. Mit Ängsten vor einer kriegerischen und gefährlichen Welt hatte das alles gar nix zu tun. Vermutlich wurden damals Thrash-Bands deshalb so belanglos, weil sie nicht mehr über die Atombombe singen konnten.