Grunge und Rockmusik in den 90ern - Erbe einer musikalischen Revolution

Welche prägenden (gesellschaftspolitischen) Ereignisse verbinde ich mit den 90er Jahren und wie habe ich mich damals als Jugendlicher gefühlt?

Die Freude über die Einheit war bei mir sehr groß, da meine Mutter aus der DDR stammte und endlich die lang ersehnte Wiedervereinigung kam, die niemand für möglich gehalten hatte. Aber nach der Einheit kam auch schnell die Ernüchterung. Viele Ostdeutsche verloren ihre Arbeit und riesige Probleme - politische, wirtschaftliche, soziale, rechtliche - mussten in kurzer Zeit gelöst werden. Kohls "blühende Landschaften" waren eine Illusion. Damals war alles sehr unsicher. Im Rückblick ist es eine enorme Leistung, wie gut die Wiedervereinigung politisch, rechtlich und wirtschaftlich funktioniert hat. Leider überwiegend auf Kosten der Ostdeutschen (Stichwort: Treuhand) und auf sozialer Ebene hat die Politik meines Erachtens völlig versagt, was bis heute spürbar ist.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion entstanden neue Unsicherheiten und Krisenherde in Europa, die in den menschenverachtenden Massakern in Jugoslawien gipfelten.

Innenpolitisch schien Mitte der 90er Jahre in Deutschland alles gelähmt und die Menschen wünschten sich einen Wandel. Hinzu kamen Anschläge auf Ausländer*innen und die Städte Hoeyerswerda, Rostock, Solingen oder Mölln erlangten traurige Berühmtheit.

@Zadok Wenn du schreibst, dass "ein Zigarrenschwinger im Weißen Haus und ein harmloser Säufer in Moskau" dir das Gefühl gegeben haben, dass die Zeiten rosig sind, dann hat es bei mir genau das Gegenteil ausgelöst. Ich hatte große Zweifel, wie ein netter Typ, der aussieht wie Chevy Chase, und ein lächerlicher Alkoholiker die Probleme einer sehr unsicheren Welt lösen sollen.

Mein Gefühl in den 90er Jahren war geprägt von Oberflächlichkeit. Der Mensch musste nur funktionieren und Leistung bringen. Die Welt war für mich emotional kalt geworden. Euro-Dance-Müll machte mich schlecht gelaunt, in der Klasse gab es plötzlich einen Punktewettbewerb, ein Geifern nach guten Noten, mein Vater empfahl mir, Ingenieur zu werden, weil ich damit am besten meinen Lebensunterhalt sichern konnte, und als ich dann 97 durchs Abi fiel, verabschiedete mich der damalige Arschlochdirektor mit den Worten "Handwerk hat goldenen Boden" und schickte mir sein dämliches Grinsen bei einem feuchten Händedruck hinterher.

Zum Glück hatte ich damals Kontakt zu Leuten aus allen "Bildungsschichten". Im Sommer habe ich beim Gerüstbau gejobbt und konnte mir so meinen ersten Bass-Verstärker finanzieren. Da ich bereits damals in Bands gespielt habe, hatte ich Kontakt zu "normalen" Menschen, die nicht studiert haben und für mich damals mehr vom Leben wussten, als mir die Lehrer damals einzureden versuchten.

Die äußere Welt, gepaart mit meiner inneren persönlichen Unsicherheit und dem Mangel an Ideen, was ich in Zukunft machen sollte, ob ich einen Beruf ergreifen oder ganz zum Schluß doch versuchen sollte, das Abitur nachzuholen, zog mich direkt zum Grunge, der mir Antworten auf meine Gefühle und Gedanken geben konnte. Ich weiß noch genau, wie ich die Schule geschwänzt habe, um mir die Vitalogy von Pearl Jam zu kaufen.

Meine persönlichen rosigen Zeiten begannen erst Ende der 90er Jahre. Abi nachgeholt, der FCK wurde Deutscher Meister, 10 Monate Bundeswehr, Ausbildung zum Schreiner begonnen und später konnte ich sogar studieren mit eigenem Zimmer in einer sehr coolen WG. Da war für mich der Grunge zu Ende, ich hatte ein gesundes Selbstvertrauen und tauchte dann ganz tief in den Heavy Metal ein.

Jetzt haben wir 2024 und ich dachte, wir hätten viele Probleme überwunden, aber irgendwie fühle ich mich langsam wieder wie in den 90er Jahren. Die Welt ist heute genauso unsicher wie damals, und vielleicht ist es kein Zufall, dass ich mich plötzlich wieder für Grunge interessiere.
Ich habe die frühen und Mittneunziger völlig anders erlebt. Es waren paradiesische Zeiten, eigentlich die besten Zeiten aller Zeiten, ähem. Alles ging, nix musste. Es gab - von der damals kaum wahrgenommenen Klimakrise mal abgesehen - keinerlei echte Bedrohungen. Das bisschen Operation Wüstensturm wurde in Europa nur am Rand wahrgenommen, und als Bill Clinton ins Amt kam, hatte Al Jourgensen keine Feindbilder mehr und konnte sich voll und ganz nur noch auf Heroin konzentrieren. Das Ergebnis: zwei gleichermaßen kaputte wie auch brillante Ministry-Alben (Filth Pig, Dark Side Of The Spoon).
Im Grunge ging es viel mehr um individuelles Innenleben und individuelle Ängste. Mit Ängsten vor einer kriegerischen und gefährlichen Welt hatte das alles gar nix zu tun. Vermutlich wurden damals Thrash-Bands deshalb so belanglos, weil sie nicht mehr über die Atombombe singen konnten.
 
Sehr interessanter Thread, den ich komplett durchgelesen habe.
Gefällt mir.
Aber ich mach es kurz:
Grunge und ich mochten uns nie. Und werden das auch nie tun.
Ende.
 
Ich schließe mich meinem Vorredner an, im Grunde, oder so...oder nicht ganz.

Für mich waren diese ganzen ungewaschenen, verlausten und weinerlichen :D Kaputtnicks so was von überflüssig. Die waren nur am rumheulen, wie doof die Welt doch ist. Außerdem kamen mir vereinzelte Musiker auch so vor, als würden sie nicht so gerne leben und nur zu faul sich wegzuballern. Im nach hinein betrachtet vielleicht gar nicht so weit hergeholt. Die Konzerte der klassischen Formationen wurden immer leerer, was mir richtig auf den Sack ging und alleine schon deshalb hasse ich diesen ganzen Kram, der sich unter dem Begriff "Grunge" tümmelt.

Mit diesen ganzen von euch genannten Pimmelbands habe ich mich tatsächlich erst seit den 2010er beschäftigt. Meine Frau findet NEVERMIND ganz toll (what the hack), okay, hab ich die Platte beim Aldi Nord für 15€ halt mitgenommen. Inzwischen haben ein paar CDs ihren Weg ins Regal gefunden, denn das war doch nicht alles schlecht ;)
 
Es ist sehr interessant, wie unterschiedlich die 90er Jahre von den hier Anwesenden wahrgenommen wurden. Für mich waren die 90er der Beginn der Individualisierung hin zur Erlebnis- oder Spaßgesellschaft. Die Nachbarn waren nicht mehr wichtig und nervten, weil man selbst alles hatte, in den öffentlichen Verkehrsmitteln verstummten die Gespräche und in den Arztzimmern wurde nur noch geflüstert, weil jeder für sich sein wollte. Für mich trieften in den 90ern aus allen Poren der Egoismus und eine gewisse Oberflächlichkeit. Trotz der Wiedervereinigung gab es eine geistige Spaltung in den Köpfen der Menschen und der Besserwessi und der Meckerossi sind als Begriffe entstanden. Das Klima und die Umweltverschmutzung war ein weiteres Übel. Ich hatte immer die Textzeile "How can we dance When our earth is turning / How do we sleep While our beds are burning" im Hinterkopf. Das fand ich alles irgendwie extrem ätzend.

Die unterschiedliche Wahrnehmung mag auch altersbedingt sein. Ich habe die Grunge-Zeit mit 14 Jahren so richtig miterlebt. Da ist natürlich automatisch eine gewisse Unsicherheit dabei, während Ältere da schon reifer waren und vieles lockerer und entspannter beurteilen konnten.
 
Um mal aufs musikalische Thema zurückzukommen: die beste AIC ist für mich ganz klar:

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Ich habe die 90er nicht so empfunden wie du. Vielleicht sind mir die von dir angesprochenen Punkte nie so richtig bewusst gewesen oder ich hätte diese erkannt oder aufgefallen.
Das schlimmste für mich in den 90er war das meiste von der Bravo-MTV-Trend-Musik. Ich bekomme heute noch Zustände wenn ich auf einer Feier bin, wenn diese Musik aus den Boxen trompetet.
Das bedeutet dann entweder gleich noch ein Bier einflößen oder raus in den Raucherbereich.
 
90er, Grunge, Fuck Chirac, Crossover Festivals, WM, EM, Golfkrieg, Slayer.

Vergesst mir die aktuelle, bockstarke Rainier Fog von AIC nicht! Wäre Zeit für eine Neue.
 
Ich finde die von @Zadok und @Rozzy auf der letzten Seite angerissene Frage, inwiefern Musik zum eigenen „Gefühl für die Zeit“ passen muss, sehr interessant. Gerade als Jugendlicher war mir das sehr wichtig, und Musik, die zu fröhlich war und sich nicht mit meiner Einschätzung zur Lage der Nation deckte (die sich in etwa mit „Die Welt geht den Bach runter und das Leben ist ein Kampf“ zusammenfassen lässt :D), betrachtete ich als nichts weniger als eine Lüge.

In den 90ern war ich ein Kind, und gefühlt gab es sehr viel Zukunft. Zwar war bei uns alles voller Flüchtlinge und Traumatisierter aus dem Jugoslawienkrieg, aber selbst das fühlte sich nach Zukunft an (Ende der alten Weltordnung etc.). Auf der Bühne und im TV plötzlich die Frage nach Selbstverwirklichung von Personen, die man mit etwas bösen Willem auch als neuen Typus der „Wohlstandsverwahrlosten“ beschreiben könnte (Black Metal damals irgendwie auch eine andere Antwort auf dieselbe Frage).

Für mich bekam diese Optik einen ersten Knick mit Bush jun., Irakkrieg, Afghanistan - stiefelten wir etwa doch nicht in großen Schritten einer futuristischen Zukunft entgegen? Und in den letzten zwei Dekaden hat die Zukunft ja wieder rapide abgenommen. Futuristisch ist alles, wie aus einem 90s Film, aber besonders toll ist es deswegen leider nicht geworden. Was wohl die passende Musik für diese Zeit ist? Metal fühlt sich schon wie eine bewusste Ablenkung von den Zuständen an … Grunge wäre mir zu Ichbezogen. Vielleicht ist es der trostlose, graustufige Sozialkritik-Punk von Sleaford Mods, Idles und Co., der den Zeitgeist gut einfängt.
 
Außerdem kamen mir vereinzelte Musiker auch so vor, als würden sie nicht so gerne leben

Aus meiner Sicht ist das ja eine der nachvollziehbarsten Voraussetzungen zum Erschaffen von Kunst überhaupt. (Aber man kann mit der eigenen Verzweiflung sicherlich auch anders umgehen, kämpferischer z. B., das versteht sich von selbst.)
 
@TheSchubert666 und @Michael a.T. : Saugut, dass ihr euch auch hier beteiligt, obwohl ihr mit Grunge nichts anfangen könnt. Danke für eure Beiträge.

Ich verstehe diese Perspektive, weil ich damals über den Proberaumkomplex mit 80er Hardrockern zu tun hatte und die Jungs das genauso gesehen haben. "Heulende Jammerlappen, die nicht mal genug Eier in der Hose hatten, um ihr langweiliges Leben selbst zu beenden", hörte ich sie sagen. Ich erinnere mich an Diskussionen darüber, wer die Street Credibility hat. "AC/DC oder Rose Tattoo hatten auch keine schöne Kindheit, aber sie haben nie den Kopf hängen lassen, sondern standen selbstbewusst auf den Brettern, die die Welt bedeuten, während die Grunge-Bubis eher auf die Psychocouch gehören, als auf die Bühne, nur um mit ihren persönlichen Problemen zu langweilen und das Publikum mit runterzuziehen". Solche Aussagen kamen da von den Jungs und aus ihrer Position heraus betrachtet hatten sie damit ja auch ein bisschen Recht. Selbstzweifel, das innere Seelenleben, über Gefühle sprechen...das alles existierte im Hard Rock und Metal eher nicht.
 
Aus meiner Sicht ist das ja eine der nachvollziehbarsten Voraussetzungen zum Erschaffen von Kunst überhaupt. (Aber man kann mit der eigenen Verzweiflung sicherlich auch anders umgehen, kämpferischer z. B., das versteht sich von selbst.)
Nach dem Motto, Kunst entsteht durch Leid. Klar, bei den richtig guten Balladen spielt das wahrscheinlich eine entscheidende Rolle.
 
Es ist sehr interessant, wie unterschiedlich die 90er Jahre von den hier Anwesenden wahrgenommen wurden. Für mich waren die 90er der Beginn der Individualisierung hin zur Erlebnis- oder Spaßgesellschaft. Die Nachbarn waren nicht mehr wichtig und nervten, weil man selbst alles hatte, in den öffentlichen Verkehrsmitteln verstummten die Gespräche und in den Arztzimmern wurde nur noch geflüstert, weil jeder für sich sein wollte. Für mich trieften in den 90ern aus allen Poren der Egoismus und eine gewisse Oberflächlichkeit. Trotz der Wiedervereinigung gab es eine geistige Spaltung in den Köpfen der Menschen und der Besserwessi und der Meckerossi sind als Begriffe entstanden. Das Klima und die Umweltverschmutzung war ein weiteres Übel. Ich hatte immer die Textzeile "How can we dance When our earth is turning / How do we sleep While our beds are burning" im Hinterkopf. Das fand ich alles irgendwie extrem ätzend.

Die unterschiedliche Wahrnehmung mag auch altersbedingt sein. Ich habe die Grunge-Zeit mit 14 Jahren so richtig miterlebt. Da ist natürlich automatisch eine gewisse Unsicherheit dabei, während Ältere da schon reifer waren und vieles lockerer und entspannter beurteilen konnten.
Absolut. Was 4 Jahre Unterschied ausmachen können. Ich schrieb aber absichtlich "in meiner Blase" dazu. Mittelschicht, uns ging es gut und ich war in den frühen Neunzigern bereits erwachsen.
Da hat man nicht mehr ganz so existenzielle Sorgen, hatte einen relativ großen Freundeskreis, ein Auto. Keep on rockin in a free world :D
 
@TheSchubert666 und @Michael a.T. : Saugut, dass ihr euch auch hier beteiligt, obwohl ihr mit Grunge nichts anfangen könnt. Danke für eure Beiträge.

Ich verstehe diese Perspektive, weil ich damals über den Proberaumkomplex mit 80er Hardrockern zu tun hatte und die Jungs das genauso gesehen haben. "Heulende Jammerlappen, die nicht mal genug Eier in der Hose hatten, um ihr langweiliges Leben selbst zu beenden", hörte ich sie sagen. Ich erinnere mich an Diskussionen darüber, wer die Street Credibility hat. "AC/DC oder Rose Tattoo hatten auch keine schöne Kindheit, aber sie haben nie den Kopf hängen lassen, sondern standen selbstbewusst auf den Brettern, die die Welt bedeuten, während die Grunge-Bubis eher auf die Psychocouch gehören, als auf die Bühne, nur um mit ihren persönlichen Problemen zu langweilen und das Publikum mit runterzuziehen". Solche Aussagen kamen da von den Jungs und aus ihrer Position heraus betrachtet hatten sie damit ja auch ein bisschen Recht. Selbstzweifel, das innere Seelenleben, über Gefühle sprechen...das alles existierte im Hard Rock und Metal eher nicht.
Damit hast Du den Nagel auf den Kopf getroffen :D Unsere Generation war durch den kalten Krieg, das Damokles Schwert - Stationierung der SS20 und Pershing II, sauren Regen und überhaupt die Umweltverschmutzung so abgebrüht, denn das hatten wir alles schon locker überlebt. Und nicht nur das, es wurde auch langsam besser. Die Karohemden haben wir damals schon ziemlich, ich will jetzt nicht sagen, ausgelacht, aber man guckte schon etwas mitleidig auf diese Leute.
 
Das manch einer die Protogonisten von "Grungebands" für weinerliche Waschlappen hält oder gehalten hat, zeigt wie sehr sich dieser schreckliche "Grungehype" der schreibenden Zunft in den Köpfen festgesetzt hat und (so wie es immer läuft, wenn eine Musikrichtung kommerziell nutzbar gemacht wird) wie sehr sich dann die musikalischen Trittbrettfahrer bemüht haben, genau diesem Klischee zu entsprechen (inkl. einiger sog. Fans).

Für mich als jemand, der "Grunge" in seinen Anfängen mitbekommen hat (bevor es der nächste Jugendtrend wurde) wirkt das immer noch ziemlich absurd, denn es gab keine weinerlichen "Grungebands" vor 1990. Und selbst danach war dem nicht so. Bestes Beispiel: WILLARD aus Seattle, deren Debüt 'Steel Mill' 1991 erschien. Tonnenschwerer Hardrock, der oft recht sludgig daherkommt und seine Einflüsse aus den frühen Black Sabbath zieht, als auch vom Noise Rock der Marke Amp Rep. Der Schlagzeuger war zuvor bei TAD und so gehörten WILLARD zusammen mit SOUNDGARDEN und TAD zu den hart rockenden Sabbath-Jüngern aus Seattle. Logisch, dass Endino 'Steel Mill' produziert hat.
 
Wie ist denn eigentlich die Bezeichnung "weinerliche Jammerlappen" entstanden und was genau ist denn damit gemeint? Ist Blues oder Doom auch weinerlich?

Ich kann das nur als Abgrenzungsbegriff verstehen, also als pauschale Verallgemeinerung für etwas, was einem persönlich nicht gefällt oder vor den Kopf stößt. Um sich dann nicht weiter damit beschäftigen zu müssen, hängt man einen Zettel dran und hat es damit aus dem eigenen Denken ausgeklammert.
 
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