Piece Of Mind
Erschienen am 16.05. 1983
Produzent: Martin "Black Night" Birch
Songwriting & Rehearsing: Le Chalet, Jersey/ Channel Islands im Januar 1983
Recorded: Compass Point Studios, Nassau / Bahamas
Toningenieure: Dennis Haliburton, Frank Gibson
Mixing: Martin Birch & Bruce Buchhalter @ Electric Ladyland New York
Artwork: Derek Riggs
Mit Piece Of Mind verbinde ich ganz besondere Erinnerungen: Es war im Jahr 1994, als mir ein damaliger Schulfreund bei einem Besuch eine Schallplatte mit nach Hause gebracht hat, die er aus der Sammlung seines Cousins stibitzt hat, der nun kein Metal mehr hört, da er ja jetzt eine kleine Tochter hat und ihr diese Musik nicht zumuten könne (!!!!) Ich kannte von Iron Maiden bis dato nur die Killers, Live After Death und die Number Of The Beast und plötzlich halte ich diese magische Platte in der Hand: Eddie kahlrasiert und lobotomisiert, in Zwangsjacke gefesselt in einer Gummizelle. Das Plattencover konnte man aufklappen und auf der Innenseite sieht man die Band dekadent speisen. Auf den goldenen Tellern wird Gemüse (Rosenkohl und Mörchen) mit Gehirn serviert. Auf pechschwarzem Grund in goldener Schrift die Texte. Das Dumme war: Ich hatte keinen Plattenspieler mehr, da diese in den 90ern ziemlich aus der Mode gekommen sind. Zum Glück feiert Vinyl heute ja wieder ein Revival. Rund drei Jahre stand diese Platte in meinem Regal und ich kannte die Texte auswendig, aber bis auf Revelations, The Trooper und Flight Of Icarus (alle als Liveversionen von der Life After Death) keinen einzigen Song und ich habe mich gefragt, wie sich die Songs wohl so anhören würden und mir in meiner Phantasie ziemlich abstruse Sachen zusammenkomponiert. Ich glaube, meine Idee von Die With Your Boots on wich dann doch drastisch von dem ab, was der Song dann wirklich musikalisch ausdrückt.
Irgendwann 1999 griff ich dann in einem Plattenladen, ich glaube, es ist die heute in Deutschland nicht mehr existierende Kette HMV gewesen, beherzt zu, als mich das Cover auf CD zum Special Price anlächelte. Gespannt und gebannt lauschte ich dann den Songs auf der sündhaft teuren High End Anlage meines auch heute noch besten Freundes (der sich damals statt einer Maidenplatte doch lieber VHS Kasetten mit Dragonball Episoden kaufen musste) und wurde regelrecht weggeblasen.
1. Where Eagles Dare (Harris) zeigt, warum Nicko McBrain Iron Maiden musikalisch so weit nach vorne gebracht hat. Rhythmisch war das im Vergleich zum leider inzwischen verstorbenen Vorgänger Clive Burr ein Quantensprung. Was hier an aberwitzigen Breaks und Synkopen abgeliefert wird, lässt heute noch jeden Schlagzeuger mit der Zunge schnalzen. Der hervorragende, in stratosphärische Höhen greifende Gesang Dickinsons nimmt hier zeitlich nicht so viel Raum ein, wie das Schlagzeug des vielbeschäftigten McBrain und die Gitarrenläufe. Die Riffs sind phänomenal, von cineastischer Breitwandqualität und die sehr freizügigen Soli nicht minder. In etwas mehr als sechs Minuten, die wie im Adlerfluge vergehen, werden hier mehr Ideen verbraten, als andere Bands in 12 minütigen Songs verarbeiten können. Eine furiose Achterbahnfahrt und für mich der beste Maiden Opener, gefolgt von Caught Somewhere In Time. Bruce ist hier gesanglich so ziemlich auf seinem Höhepunkt, was sein Falsett betrifft, vor allem beim letzten Refrain kurz vor dem Ende. Das hat fast Geoff Tate Qualität (siehe Take Holf Of The Flame nach dem Intro: Man denkt, es geht nicht höher... doch, das geht. Der Wahn! 10/10
2. Revelations (Dickinson) ist dann das offizielle Songwriting Debut von Bruce Dickinson. Auf dem Vorgängeralbum Number Of The Beast, das auch sein Einstand bei Iron Maiden war, hat er ebenfalls einige Songs mitgeschrieben, durfte aber aus rechtlichen Gründen nicht in den Credits als Songwriter genannt werden, da er offiziell ja noch an die Band Samson gebunden war. Bei Revelations zeigt Bruce nun, dass er nicht nur ein begnadeter und ergreifender Sänger ist, sondern auch ein ausserordentlich talentierter Komponist. Der Song war mir bereits als Liveversion von der Life After Death bekannt und konnte mich zunächst in seiner Studioversion aufgrund des verlangsamten Tempos nicht so sehr überzeugen, wie auf Life After Death. Aber diese sehr emotionale, abwechslunsgreiche und rührende Halbballade ist eine der Perlen im Fundus der Band, die viel zu selten live gespielt werden. Sperrig, aber nach mehrmaligem Hören erschlossen und zu begeistern wissend. Das pastoral anmutende Intro mit dem harmonisch die Gitarren konterkarierenden Bass, der hymnische Refrain, der kryptische und voller mythologischer Symbolik steckende Text und das gesteigerte Tempo in der dynamisch nach vorne peitschenden Mitte mit herrlichen doppelläufigen, leicht mittelalterlich anmutenden Melodiebögen nach dem zweiten Solo runden dieses Epos ab, das sowohl Einflüsse von Wishbone Ash, als auch von Jethro Tull geschickt in den Sound der Band integriert. Der Song ist in den letzten Jahren genau wie Where Eagles Dare immer mehr gewachsen. Eine Perle der Natur! 10/10
3. Flight Of Icarus (Smith / Dickinson) war mir ebenfalls bekannt und gefiel mir als Studioversion ebenfalls nicht sonderlich, da etwas zu lahmarschig und auch etwas käsig. Ich glaube, mal gelesen zu haben, dass Steve Harris damals ählicher Meinung war. Der Refrain ist jedoch ausserordentlich eingängig und das mehr als ekstatische von Adrian zelebrierte Solo am Ende werten diesen Song dann doch noch auf. Achtet mal genau auf die Drums: Nicko nutzt die Bassdrum im ganzen Song so gut wie gar nicht, sondern wechselt nur zwischen den Toms und der Snare hin und her. Sehr interessant! Live aber hat Flight Of Icarus sehr viel mehr Drive. Dennoch: Der Song ist kaum abgenutzt und gut gealtert. 9/10
4. Die With Your Boots On (Smith / Dickinson / Harris) besticht durch klassisches Galoppel-Riffing und einen ungewöhnlichen Refrain - Bruce Dickinson fragt und die Band antwortet im Background. Die Melodiebögen vor dem ersten Solo und vor dem zweiten Solo, vor allem aber die Soli selbst sind wirkliche Saitenkunst. Adrian Smith und Dave Murray sind die melodischen Zugpferde der Band und dudeln nicht einfach nur die Skalen rauf und runter, sondern spielen ihre Soli mit Sinn und Verstand. Der kitschig apokalyptische Text und der ziemlich schmissige Drive verleihen dem Song dann eine weitere besondere Würze. Eine im heutigen Liverepertoire der Band leider nur selten gespielte Nummer, aber gute 9/10 Punkten wert.
5. The Trooper (Harris) schlägt in eine ähnliche Kerbe wie Die With Your Boots On, ist jedoch direkter, kompromissloser und kommt schneller zur Sache. Das Lied hat keinen richtigen Refrain, aber eine Melodie, die sich seeehr tief in die Ohren frisst und aus dem Liverepertoire der Band nicht mehr wegzudenken ist. Um ehrlich zu sein, kann ich diesen Song nicht mehr hören, da ich ihn wie Run To The Hills damals ziemlich totgehört habe. Objektiv sind weniger als 10/10 Punkten eigentlich ein Sakrileg. Oft gecovert, nie erreicht und so ziemlich der Maiden Signature Song, wenn einem Run To The Hills zu poppig ist. Vor wenigen Monaten hatte ich das Vergnügen, den Song auf WDR 2 im Radio zu hören und dachte, ich traue meinen Ohren nicht. Wirklich zu kritisieren ist nur der "Ohohohohohohohoooo" Refrain. Strophen,
Riffing und Soli,
Bassline,
Drumming sind perfekt. Nur eben abgenutzt, da zu oft live gespielt, zu oft in Clubs gehört... Für mich "nur" noch 9,5/10
6. Still Life (Murray / Harris) ist dann eine dieser unscheinbaren Nummern, die seit 1988 nie mehr live gespielt wurden und Dave Murray die seltene Gelegenheit geben, zu zeigen, dass er nicht nur ein formidabler Gitarrist ist, sondern auch ein begnadeter Songschreiber. Zunächst spricht Nicko McBrain rückwärts und zeigt damit den Leuten den Mittelfinger, die glauben, Iron Maiden würden heimlich satanistische Botschaften auf ihren Platten verstecken. Nach diesem Hoax, den Nicko rückblickend als seine berühme Idi Amin Eingebung bezeichnet, offenbart Murray sein beispielloses Können mit einem ruhigen, bluesigen und herzzerreißend melancholisch-nachdenklichem Intro und einem ausladenden, sehr ergreifenden Gitarrensolo, ehe Bruce dann mit leicht flüsternder Stimme in den Song einstimmt, der sich dann zu einem sperrigen, aber dennoch kraftvollen Kracher entwickelt, der vertrackte Soloteil in der Mitte hat einen ganz besonderen, treibenden Punch und ebenfalls beinahe Jethro Tull'scher Melodieführung. Murrays Kompositionen sind selten, irgendwie interessant und klingen anders. Siehe später auch Deja Vu und The Prophecy, aktuelles Beispiel: The Reincarnation Of Benjamin Breeg. Oft sind die ruhigen Intros interessanter als der Rest des Songs, hier allerdings nicht. 10/10 Punkten sind auch hier angemessen. Lediglich der Refrain geht gesanglich nah am Kitsch vorbei. Textlich könnte es beinahe der Titelsong sein. Absolut unterbewertet.
7. Quest For Fire (Harris) ... was soll man sagen. Textlich greifen Maiden hier mit einer historischen Falschbehauptung sehr tief ins Klo. Dinosaurier, die mit Höhlenmenschen über die Erde liefen. Auch wenn sich Steve Harris mit diesem Text auf einen Film "Am Anfang war das Feuer" von 1981 bezieht, übrigens ein sehr spannender und ungewöhnlicher Film, den ich trotz fehlender Dialoge für absolut sehenswert halte: Im Film kommen zwar Höhlenmenschen vor, aber keine Dinosaurier. Auch musikalisch wird hier die Grenze zum Kitsch weit überschritten, allerdings muss man Bruce zu Gute halten, dass er nie - weder vorher, noch nachher - in größere Höhen vorgedrungen ist. Live hätte er das sicher niemals singen können. Insgesamt ein unscheinbarer Song, dem man mit guten Willen allerdings 7/10 Punkten geben kann. Kitsch hat halt doch auch Kultfaktor.
8. Sun And Steel (Dickinson / Smith) schlägt dann in eine ähnliche Kitsch-Kerbe, wie Quest For Fire, verfügt aber über die zwingenderen und auch schlüssigeren Melodien und den historischen Bezug zu Myamoto Musashi, Bruce kann hier seine Leidenschaft für den Fechtsport textlich ausleben und Adrian Smith lässt auch ein sehr schönes Solo aus seinen Fingern über die Saiten perlen. Kurz und knackig, der kürzeste Song auf Piece Of Mind und wohl einer der knackigsten und unbekümmertsten Maiden Songs überhaupt. Direkt, unkompliziert und dennoch irgendwie verspielt. 8,5/10 Punkten.
9. To Tame A Land (Harris)... Steve Harris hat mal gesagt, dass dies sein allerbester Song sei. Ich kann mir das allerdings kaum vorstellen, da man sich fragt, warum er als Bandchef diesen Epos nicht live spielen möchte? Textlich lebt Steve Harris hier seine Leidenschaft für Science Fiction aus, leider hat ihm Schriftsteller Frank Herbert einen Strich durch die Rechnung gemacht und untersagt, diesen Song "Dune" (der englische Titel des Epos "Der Wüstenplanet - LESENSWERT!) zu nennen. Leicht orientalisch kommt er daher mit einem ausladenden Gitarrenbogen, dessen Melodie sich durch den gesamten Song spannt. Leadinstrument ist aber der Bass. Steve Harris gibt mit seinen vier dicken Trossen die Melodie vor und die Gitarren folgen lediglich. Seinen Vorbildern im Progressive Rock folgend, setzt Steve Harris hier den Bass als Leadinstrument sehr geschickt ein, Nicko McBrain würzt den Song mit einem schleppenden Rhythmus, garniert mit zahlreichen komplexen Fills. Das Riff, während Bruce zu Singen beginnt, ist rhythmisches und atonales Stakkato, während Steve unbeirrt die Melodie auf dem Bass weiter spielt. Nur zwischen den einzelnen Strophen darf auch die Gitarre mal als Leadinstrument hervorstechen. Hier ist es Dave Murray, der wiederum zeigt, was er kann. Eine geniale Melodie jagt hier die andere, Bass und Gitarre spielen hier Verfolgsungsjagd und insgesamt muss man von einem Melodiekarrussell sprechen. Die Melodiebögen sind wirklich wunderschön und prachtvoll, es ist ein Hochgenuss, den drei Saitenhexern zu horrchen. Für mich, auch als Science Fiction Fan ebenfalls eine der besten Kompositionen aus dem Hause Harris, unkonventionell und ziemlich verrückt. Die sieben Minuten vergehen viel zu schnell und eigentlich könnte ich diese endlosen Dudelschleifen noch eine Weile länger ertragen. Heute haben Maiden diesen Stil bis zum Ultimo ausgelutscht, damals war das noch ziemlich en vogue. 10/10.
Insgesamt kann man sagen, dass Piece Of Mind deutlich progressiver daherkommt, als seine drei Vorgängeralben. Bruce traut sich mehr beim Gesang, Nicko McBrain bringt eine interessante, jazzige Schlagseite hinein. Im Vergleich zu Number Of The Beast haben Maiden vielleicht eine Priese Härte und Düsterniss eingebüsst, summa sumarum aber kompositorisch einen Quantensprung vollbracht. Es war ja auch kein Wunder, dass für die B-Seite der Trooper Single dann "Cross Eyed Mary" von Steve Harris Lieblingsband Jethro Tull gecovert wurde.
Die Platte ziehrt nach wie vor noch mein Regal und ich schaue mir die Texte gerne an, wenn ich die CD höre.
Maiden haben nun ihren eigenen Stil gefunden und bis dato mehr oder weniger beibehalten.
Trotz winziger, kaum ins Gewicht fallender Mäkel kann man mit Fug und Recht 9,5 /10 mit Tendenz zu 10/10 Punkten vergeben.