Insofern Fan sein heißt, für eine Band alles zu tun oder sie gegen alles zu verteidigen, bin ich wohl von keiner Band Fan. Wenn es aber heißt, eine überquellende, irrationale Liebe zu verspüren, die sehr weit reicht und einen alle möglichen Dinge tun lässt, zu denen man ansonsten eher nicht bereit wäre, dann bin ich Maiden-Fan. Vielleicht sogar mehr, als ich mir lange eingestanden habe, denn der Moment, als gestern "Doctor, Doctor" anfing, hat sich einfach viel zu gut angefühlt. Also besser, als sich so ein triviales Detail anfühlen sollte. Ich bin ehrlich: "Doctor, Doctor" vom Band ist für mich schon die halbe Miete. Ich hab gestern 80 Euro für den Stehplatz bezahlt, und ich muss sagen, nur "Doctor, Doctor", plus Steve, der mit einem Bein auf dem Stagemonitor in den Bass haut und in die Menge stiert, damit bin ich schon zufrieden, der Rest ist Extra. Ich liebe Steve. Ich habe zwischen den Songs darüber nachgedacht, wie man einen Steve Harris in typischer Pose tätowieren könnte, ohne dass es vollkommen bescheuert aussieht (ich finde es prinzipiell eine grauenhafte Idee, sich Abbildungen von realen Personen stechen zu lassen, aber ich würde es trotzdem machen).
Was gab es sonst noch: etwas mehr körperliche Nähe, als ich nach zwei Jahren Seuche gut verkraften kann, aber gleichzeitig auch weniger schlimm als befürchtet. Es war möglich, unter einer halben Stunde vom Getränkekaufen und Urinieren wieder zu seinem Platz zurückzukehren (25. Reihe Mitte etwa), und eine gute Sicht musste nicht bitterlich erkämpft oder verteidigt werden. Sitzplatz erst, wenn ich tot bin, das ist mein Standpunkt (ba-dumm tsss), aber mit dem langen zeitlichen Abstand zu den letzten Großveranstaltungen wirkt das Zeit- und Flüssigkeitsmanagement, dem man sich da unterwirft - Stichwort Selbstaustrocknung, Toilettentraining wie bei einem Hund etc. - noch absurder (aber siehe erster Absatz). Erfreulicherweise keine zahl-extra-damit-du-was-von-der-Band-siehst-Barriere im Feld. Drei Crowdsurfer - WOA-Style, immer schön von ganz hinten Richtung Bühne, direkt in dein Genick - haben sich hoffentlich was gebrochen, dann war das zum Glück auch wieder vorbei (hat aber bei einigen Anwesenden direkt Wacken-Kriegszittern ausgelöst, u.a. an die summarisch schrecklichste Konzert-Gesamterfahrung meines Lebens, Maiden ebendort 2014).
Der Sound war glasklar, aber gleichzeitig schien mir die Instrumentalfraktion gegenüber Bruce deutlich zu leise, die Rhythmusgitarren musste ich mir über weite Teile vorstellen. Würde mich interessieren, wie andere Anwesende das empfunden haben. Den Opener habe ich als theatralisches Understatement gesehen, aber dadurch, dass Writing on the Wall auch eher getragen ist, fand ich den Senjutsu-Block als Start eher semi-gelungen, richtige Stimmung kam da nicht auf, obwohl die Songs per se live schon gut kommen. Ab Revelations war ich zu Hause, nach dem Tripel Hallowed...-Number...-Iron Maiden schon vollends zufrieden. Schöner Zug auch, dass Bruce sich genau zu Number of the Beast die Haare aufgemacht hat. Etwas schade fand ich, dass Nicko vollständig von seinem Kit verschluckt wurde, so dass man ihm effektiv nicht beim Spielen zusehen konnte, auch wenn er die Pausen für ausführlichsten Fankontakt genutzt hat. Das gelungenste Showelement ist in meinen Augen immer noch der "Engel", der nach Sign of the Cross hinter Bruce im Schatten ersteht und sich dann als Ikarus entpuppt, der fake-abgefackelt wird (das ist kein "Rammstein-Element", das ist das Single-Cover!). Bei uns kam nach dem Gig die Frage auf, ob die aufwendige Show und ständigen Wechsel, die man schon beim ersten Leg der Legacy-Tour 2018 beobachten konnten, nicht dazu führen, dass a) Bruce kaum mehr Zeit zum Reden hat und b) der Rest der Band etwas "showfaul" wird und sich zu sehr auf Bruce als Showmaster und die ganzen Gimmicks verlässt. Ich bin geneigt, dem zuzustimmen, auch wenn ich das eher als Randnotiz sehe und nicht wahnsinnig schlimm finde.
In Summe fand ich die Setlist nicht schlecht, mit der Legacy-Tour 2018 (2 Minutes, For the Greater Good, Where Eagles Dare, The Evil That Men Do) kann sie aber nicht mithalten, und generell muss die komplette Abwesenheit von SiT (und SSoaSS) natürlich als Skandal bezeichnet werden. Ich bleibe dabei, dass Bruce seit 2018 besser bei Stimme ist als die zehn Jahre davor, künstliches Hüftgelenk merkt man ihm auch nicht an, gut für ihn. "Legacy" bedeutet ja Erbe, und ich sehe ja schon seit Jahren jeden Maiden-Gig als potenziell letzten an, ich kann nur sagen, es ist wirklich eine großartige, seltene, sehr glückliche Angelegenheit - für eine Band, für ihre Fans - wenn man 40 Jahre musikalisches Schaffen so zelebrieren und würdigen kann, wie Maiden es auf dieser Tour machen. Die wirken zurzeit wirklich komplett in Harmonie mit sich selbst, miteinander und mit ihrer Geschichte.