Damage Case
Till Deaf Do Us Part
MOTÖRHEAD - March Ör Die
March or croak / all your lives a cosmic joke / fill your days with piss and smoke / the wolf waits at your door
Nach „1916“, dem ersten Album für ein Major-Label, sah es für Lemmy und Co. erstmal düster aus. Für die Plattenfirma hatte die Platte nicht den erhofften Erfolg gebracht, und MOTÖRHEAD standen unter Druck. „March Ör Die“ hört und merkt man diesen Druck mehr als deutlich an. Kein anderes Album der Bandgeschichte liebäugelt derart offensichtlich mit dem Mainstream.
Doch auch abseits des eigentlichen Albums gab es Probleme, die sich natürlich auf dasselbe auswirkten. Ein Arbeiten mit Philthy „Animal“ Taylor war zu dem Zeitpunkt nicht mehr möglich, seine Performance ließ stark zu wünschen übrig. Er hatte für das Album im Vorfeld nicht geprobt und Schwierigkeiten mit dem Timing. In seiner Biografie gibt Lemmy zu Protokoll, dass man ihm „sogar“ ein Metronom habe hinstellen müssen, damit er die Geschwindigkeit halten könne. Was für tausende Rock- und Metal-Bands täglich Brot ist, war für Mr. Rock ‘n‘ Roll offensichtlich ein No-Go.
So kam es, dass Philthy lediglich beim Song ‚I Ain’t No Nice Guy‘ in die Felle drosch, der Rest des Albums wurde von Session-Drummer Tommy Aldridge eingetrommelt.
Moment mal, nicht der ganze Rest! Während des Studiobesuches gelang es Lemmy, endlich Mikkey Dee als neuen festen Trommler an Bord zu holen, an dem er in der Vergangenheit während dessen King Diamond-Zeiten schon erfolglos herumgebaggert hatte. Eben jener Mikkey, mit seiner blonden Föhnwelle* zumindest optisch ein Widerpart zum eher speckigen Look der restlichen Band, spielte immerhin ‚Hellraiser‘ und das auf dem Soundtrack zum gleichnamigen Film enthaltene ‚Hell On Earth‘ ein.
Das alleine wäre ja noch gar nicht so aufregend gewesen, aber das Album als Gesamtwerk lässt auch heute noch in mehrererlei Hinsicht tief blicken. Über das mäßig gelungene nicht-Petagno-Cover müssen an dieser Stelle nicht viele Worte verloren werden, überwarfen sich MOTÖRHEAD und ihr Management im Lauf der Jahrzehnte bekanntlich immer wieder mit dem genialen Designer. Viele verpasste Cover-Chancen waren die Folge, besonders schlimm zu sehen bei „Overnight Sensation“, „The Wörld Is Yours“ und „Motörizer“. Das „March Ör Die“-Frontbild ist sicher keine Vollkatastrophe, aber es wäre definitiv mehr drin gewesen.
Soundmäßig war das Album das größte Mainstream-Zugeständnis, das die Band jemals gemacht hat, wenig Punch, viel Hall und für MOTÖRHEAD-Verhältnisse teilweise regelrechter Plüsch – nur leider alles viel zu spät. Der Grunge hatte mit Melancholie, Selbstmitleid und erdigen Sounds längst seinen Siegeszug am einen Ende des Rock-Spektrums angetreten, während auf der anderen Seite der Death Metal Hunderttausende Kids mit immer größerer Brutalität fesselte. Dass eine Band wie MOTÖRHEAD, für sich genommen schon ein Dinosaurier, plötzlich die Achtziger für sich entdeckte, bewirkte meiner bescheidenen Meinung nach das genaue Gegenteil des gewünschten Effekts, neues Publikum an die Band zu binden. Das hatte wohl auch das Label WTG – ein Sony-Sublabel – so empfunden und pushte „March Ör Die“ kein Stück.
Selbst eine lupenreine Ballade wie ‚I Ain’t No Nice Guy‘ inklusive Namedropping war dem Label nicht genug, um das Mainstream-Radio zu füttern. Die Band bezahlte das zugehörige Video aus eigener Tasche und konnte sogar die Gastmusiker Ozzy und Slash zur Teilnahme am Dreh überreden. Am Ende des Tages war es trotzdem nur dem damals neuen Manager Todd Singerman und seinen Mitarbeitern zu verdanken, dass der Song überhaupt nennenswertes Airplay erhielt. Die Plattenfirma versuchte sogar aktiv, das zu unterbinden und sabotierte damit das Fortkommen der Band. Eigentlich unfassbar, aber Lemmy vermutete, dass WTG an diesem Punkt nur noch als Abschreibungsobjekt von Sony existierte – immerhin war auch die Mitarbeiterzahl auf ganze zwei Personen gesunken.
Als Song ist ‚I Ain’t No Nice Guy‘ nicht nur musikalisch ein Highlight, auch der Text eine von Lemmys zahlreichen lyrischen Sternstunden: „in all the years you spend between your life and death / you find there’s lot of times you should have saved your breath / it comes as quite a shock when that trip lead to a fall / I ain’t no nice guy after all”.
Überhaupt hat „March Ör Die” textlich viel zu bieten. Der Titelsong ist eine bitterböse Abrechnung mit der Oberflächlichkeit der Gesellschaft und der dazu gehörigen Politik, der Opener ‚Stand‘ eine einzige Durchhalteparole, die einerseits Trost bieten und aufbauend wirken kann und andererseits Lemmys offensichtlichen Frust über das Musik-Business verkörpert. ‚Bad Religion‘ ist freilich als Religionskritik zu verstehen, und ‚Hellraiser‘ lese ich wie eine neue Version von ‚(We Are) The Roadcrew‘, nur diesmal aus der Perspektive des Musikers.
Und dann ist da noch ‚Too Good To Be True‘. Dieser Song ist zugleich mein Waterloo und mein rettender Strohhalm, war stets treuer Begleiter meines jugendlichen Liebeslebens und berührt mich auch heute bei jedem Hören erneut, erschüttert mich bis ins Mark. Jeder Mensch, der schon einmal geliebt UND gelitten hat, muss einfach bei diesem Song auf die Knie fallen. @zopilote hat es bereits beschrieben, nur dass er praktisch dieselben Gefühle auf ‚All For You‘ gemünzt hat, was ähnlich gut funktioniert. Lemmys Ruf als Raubein schwebte stets als Schatten über ihm, aber wenn man – wie bei solchen Texten – genau hingeschaut hat, war er ein sehr sensibler Mensch, der unter anderem hier einen echten Seelen-Striptease hingelegt hat. Und was für Typen müssen das eigentlich sein, die mit Lederkutte und hartem Getue einerseits auftrumpfen wollen und andererseits ausgerechnet bei einem Song des härtesten aller Rocker heulen wie ein ganzes Rudel Schlosshunde? Ich sag’s euch: so Typen wie ich.
Musikalisch gibt es einige typische MOTÖRHEAD-Highlights und leider auch ein paar weniger zwingende Nummern auf „March Ör Die“, allerdings keinen Uptempo-Song. Auf Drängen des Labels hat man außerdem Ted Nugents ‚Cat Scratch Fever‘ aufgenommen, leider ist diese Version des Klassikers jedoch völlig zahnlos. Ich kann mich an ein Interview aus der Zeit erinnern (ich glaube, es war im Rock Hard), in dem Lemmy zu Protokoll gab, dass er den Textabschnitt mit der ‚Pussycat living next door‘ abgeändert habe, weil er ihm zu peinlich gewesen sei. Das muss der Interviewer allerdings falsch verstanden haben, denn der Part steht nicht nur auf dem Textblatt, sondern ist auch klar im Gesang herauszuhören.
‚Stand‘ ist ein solider aber unauffälliger Rocker, ‚Bad Religion‘ eine schleppende Walze und das erste Highlight des Albums. ‚I Ain’t No Nice Guy‘ ist tatsächlich eine der stärksten Nummern auf dem Album, während ‚Hellraiser‘ der Version von Ozzy in meiner Wahrnehmung leider unterlegen ist. ‚Too Good To Be True‘ ist eigentlich ein typischer Goodtime-Rocker, hat aber durch Text und Gesangsmelodie einen latent melancholischen Touch, der mich völlig fertig macht und im Alleingang dafür sorgt, dass dieses Album eins meiner liebsten der Band ist. Der Titelsong ein pechschwarzer, dystopischer Stampfer, für mich der legitime ‚Orgasmatron‘-Nachfolger.
Das bluesige ‚You Better Run‘ hätte sich auch anstelle von ‚Just ‘Cos You Got The Power‘ prächtig in jeder Setlist gemacht, und immerhin hatte der Song trotzdem er live ignoriert wurde unter dem Titel ‚You Better Swim‘ viele Jahre später eine kleine Renaissance als Bestandteil des Soundtracks des „Spongebob“-Films. Einer von vielen Beweisen dafür, was für einen großartigen Sinn für Humor Lemmy hatte.
Dazwischen finden sich Songs wie ‚Asylum Choir‘, ‚Jack The Ripper‘ oder ‚Name In Vain‘, die allesamt okay sind, aber sicher nicht als Glanzlichter im Motörhead’schen Schaffen durchgehen.
Man konnte vielleicht bis hierher herauslesen, dass mir „March Ör Die“ sehr viel bedeutet. Dennoch ist es wahrscheinlich für die wenigsten Fans ein Favorit innerhalb der Diskografie. Es wirkt teilweise gezwungen, scheint ein offensichtlicher Versuch, irgendwie den Mainstream-Markt zu knacken und ist auch nicht so heavy wie die typischen Band-Klassiker. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Band selbst davon nicht restlos begeistert war, das beweist nicht zuletzt der viel härtere (und musikalisch über weite Strecken zwingendere) Nachfolger „Bastards“, der gerade einmal ein Jahr später erschien, ein musikalischer Befreiungsschlag war (‚Burner‘, ey!) und die Band auch in Sachen Label viel kleinere Brötchen backen ließ. Die Neunziger waren kommerziell gesehen nicht die beste Zeit für MOTÖRHEAD, musikalisch allerdings alles andere als schwach. Und selbst ein zwiespältiges Album wie "March Ör Die" bietet derart viel Licht, dass das bisschen Schatten im Vergleich mit großen Teilen der Konkurrenz Anfang der Neunziger immer noch genug Strahlkraft hatte, um problemlos als Jahreshighlight durchzugehen.
Die letzten nun folgenden Zeilen habe ich immer im Zusammenhang mit Frauen gehört, aber während ich sie jetzt abtippe, denke ich an Lemmy. Den Rocker, den harten Hund, den Sensiblen. Den Fremden, der mir trotzdem wie ein Freund war – und ist: „Cold and lonely without you / don’t know if I can make it through / maybe you’ll hear this song / you been gone way too long / too good to let it go, too good to be true“.
*An dieser Stelle soll nicht verschwiegen werden, dass Lemmy zu dieser Zeit gerne eine Jeans im Hot Pants-Format trug, die ihn zweifellos in seiner neuen Wahlheimat, dem Los Angeles der frühen Neunziger, etablieren konnte. Im knapp 1.800 km entfernten Seattle wäre dieser Look zu dem Zeitpunkt sicher nicht (mehr) so gut angekommen. Doch selbst dieser grenzwertige Stil konnte ihn nicht entstellen. Was für ein erstaunlicher Bastard.
Ich wusste schon, warum ich mich auf Dein Review so sehr vorgefreut habe, dass ich auf eine VÖ am 06. statt 07.12. "gedrängt" habe. Dein Schreibstil ist einfach klasse und Du packst auch noch direkt einen Haufen spannender Infos und Emotionen mit rein
Meine Albumfavoriten: Stand (Der Text ist simpel, aber einfach nur Hammer!) und Jack The Ripper. Den Rest kann man sehr gut hören, stellt für mich aber kein absolutes MotörHighlight dar. Für mich ist dieses Album ein zusammen gestückeltes Album, das keine richtige Einheit bildet (Cover-Version, Zweitverwertung, Gastmusiker...) - aber kann sein, dass ich diese Meinung exklusiv habe. Deine Einordnung des Sounds in den 80ern habe ich bisher nicht bewusst wahrgenommen, aber ja, es stimmt tatsächlich. Genau wie das Cover, über das ich mir bisher noch nie Gedanken gemacht habe, da es neben das von Bastards und Hammered zum langweiligsten gehört, das je ein MotörAlbum zieren durfte... I Ain't No Nice Guy finde ich persönlich etwas öde, auch wenn es eine neue Facette von Motörhead aufzeigte. Don't Let Daddy Kiss Me ist da für mich (auch als Papa einer kleinen Tochter) ohnehin ein KOMPLETT anderes Kaliber. Aber der Nachfolger ist ja ohnehin der "Burner" - da schließe ich mich Dir an. Was Du über die "Blondie" Mikkey Dee schreibst - zu 100% richtig Und ich habe Too Good To Be True neu entdeckt, genau wie vor ein paar Tagen All For You dank @zopilote. Bei mir gibt es auch diesen einen emotionalen und biografisch verwobenen MotörSong, den ich in meinem nächsten Review offenbaren werde.
Aberrrrrr..... bei einer Sache liegts Du gewaltig daneben: Das Cover von Overnight Sensation ist DER Hit. Gerade, weil einem da drei grimmige Rocker direkt in die Augen schauen, möglichweise bist Du einfach nicht hart genug für diesen Anblick Ich werde mein Bestes geben, Dir und allen DFF-MotörHeads das Album in 7 Tagen so schmackhaft wie möglich zu machen