Denke ich an „Bastards“, dann fällt mir als erstes immer wieder auf, wie vielseitig dieses Album ist: Die ersten vier Nummern drücken den geplätteten Hörer kompromisslos gegen die Wand, und mit „Burner“ ist gar der für mein Empfinden schnellste Motörhead-Song überhaupt vertreten, der in knapp drei Minuten die Boxen in Schutt und Asche zerlegt. Dafür haben sich in der zweiten Hälfte ein paar sehr melodische Einsprengsel und, yessir, auch Neuerungen im Bandsound eingeschlichen, die man so vielleicht auch nicht erwartet hätte. Und über all dem thront nach "Love me Forever" und „1916“ zum dritten Mal binnen kurzer Zeit eine ergreifende Ballade jenseits aller damit verbundenen Klischees. Aber der Reihe nach:
Als das Album 1993 herauskam, liefen die Dinge für Motörhead gerade eher schlecht: Der Deal mit Sony Music, die die beiden Vorgänger veröffentlicht hatten, war geplatzt und der Traum, damit den amerikanischen Markt zu knacken, wohl ebenso. So unterschrieb die Band einen Vertrag beim eher auf synthetischen Pop spezialisierten deutschen Label ZYX-Music, was zur Folge hatte, dass das Album erst als Steamhammer-Neuauflage 2001 weltweit problemlos erhältlich war. Dennoch konnte man den schon damals nicht ganz unbekannten Howard Benson als Produzent an Land ziehen, der der Scheibe einen sehr druckvollen und transparenten Sound verpasste, der trotzdem die nötige Wagenladung Schmutz mitbrachte, die man von einem ordentlichen Motörhead-Album erwartete, und der auch 25 Jahre später noch allen Ansprüchen genügt.
Zu den Songs: Nach einem kurzen Vinyl-Knistern geht es mit „On Your Feet or On Your Knees“ gleich in die Vollen. Flottes Tempo, eher simpel gehaltene Gesangslinie, dafür ein gedoppelter Leadgesang und eine aggressive Grundstimmung. Nach zweieinhalb Minuten rollt dann ein Panzer namens „Burner“ heran, welcher von Neuzugang Mikkey Dee souverän und im Vollgas durch die Botanik gesteuert wird, und der Philthy-Fans den Rausschmiss der strubbeligen Trommellegende leichter verdauen lässt. Die nachfolgenden „Death or Glory“ (erneut ist man rasant unterwegs) und „I am the Sword“ bezeichnet Lemmy in „White Line Fever“ als seine Lieblingssongs des Albums, bieten Mikkey Dee wieder Gelegenheit, zu glänzen (ich gebe zu, ich bin ein kleiner Fanboy des griechischen Schweden), und behandeln textlich in typischer Lemmy-Manier die leidige Kriegs- und Gewaltthematik.
Nur eine Viertelstunde bzw. vier Songs benötigt die Band somit, um zu demonstrieren, dass das neue Line-Up funktioniert, das Feuer mehr denn je lodert, der gescheiterte Sturm auf Amerika abgehakt ist und bei Sony nur Idioten arbeiten können, wenn sie so eine Band ziehen lassen. Daher ist es jetzt Zeit, bei etwas Rock’n’Roll die Seele baumeln zu lassen, „Born to Raise Hell“ heißt die Kilmister-only-Komposition, die sich später zu einem Live-Standard entwickeln sollte. Nicht unbedingt mein Lieblingssong der Band, aber auf Konzerten bis zum Schluss eine sichere Bank, bei der wer immer an Musikern greifbar war für die Backing Vocals eingespannt wurde.
Und dann kommt aus heiterem Himmel der Song des Albums, der wohl nicht nur mir vollkommen neue Facetten des scheinbaren Rock’n’Roll-Hackstocks Ian Fraser Kilmister präsentierte: Ein gedämpfter, geradezu zerbrechlich gesungener Einstieg in den Gesang der ersten Strophe, ebenso sanfte wie unheilvolle Akustikgitarren und ein unglaublich einfühlsamer Text zum Thema sexueller Missbrauch von Kindern. Man sollte hier die kompletten Lyrics einfügen, stellvertretend wähle ich die Zeilen
„And she knows she can't tell anyone / She's so full of guilt and shame / And if she tells she'll be all alone / They'd steal her daddy and they'd steal her home“,
weil sie die ausweglose Lage der misshandelten Tochter zum Greifen nah bringen. Beim Schreiben dieses Reviews läuft der Song gerade zum dritten Mal hintereinander, und das beklemmende Gefühl bleibt auch 25 Jahre nach dem Erstkontakt mit dieser Nummer präsent. Kein Wunder:
„And Daddy lies by his daughter's side / And he sleeps both deep and well / No nightmares come to him tonight / Though his daughter lives in hell / For his seed is sown where it should not be /And the beast in his mind don't care / And the only sounds are the tears that fall / Little girl turns her face to the wall / She knows that no one hears her call, / But it seems like God hears nothing at all“.
Lemmy hatte die Ballade übrigens schon seit längerem auf Halde und unter anderem Lita Ford und Joan Jett erfolglos angeboten. Ohne den verdienten Rockerinnen zu nahe treten zu wollen: Gut so.
Und so sind wir schon mittendrin bei der eingangs erwähnten Vielseitigkeit des Albums: „Bad Woman“ löst mit seiner traditionellen Rock’n’Roll-Urgewalt den vom vorherigen Track geformten Kloß im Hals, der „Liar“ erscheint mit giftgrün-galliger Klangfarbe, während „Lost in the Ozone“ als eine weitere intensive (Halb-)Ballade mit sehr persönlichen Lyrics aufwartet, leider zu Unrecht ein wenig im Schatten von „Don’t Let Daddy Kiss Me“ steht und es definitv wert ist, neu- oder wiederentdeckt zu werden. Die ursprüngliche Auflage endet schließlich mit gleich drei eher melodischen und grundsoliden Nummern, bei denen „We Bring the Shake“ mit ein paar rhythmischen Schlenkern (ihr wisst von wem) aufwartet und „Devils“ (das hätte übrigens der ursprüngliche Albumtitel sein sollen) vor allem mit seinen Harmony Vocals zum Albumende hin aufhorchen lässt.
Mein ganz persönliches Fazit: Auch wenn auf „Bastards“ Würzel noch aktiv beteiligt war (laut Lemmy übrigens zum letzten Mal, sein Beitrag zum Nachfolger „Sacrifice“ fand an sich nur auf dem Papier statt), ist es das Album, dass stilistisch die zweite große Motörhead-Ära als Trio einleitet. Man spürt, dass es die Band nach dem Sony-Fiasko noch einmal wissen wollte, es gibt nicht einen schwachen Song auf der Platte (ok, das ist bei Motörhead öfters der Fall), das Album zeigt etliche neue Seiten der Band, ohne den Markenkern auch nur irgendwie zu verändern, und es kommt zumindest mir überhaupt nicht so vor, als habe das Album heute schon 25 Jahre auf dem Buckel. Lemmy hat es immer als eines der stärksten Alben seiner Band überhaupt bezeichnet, ich pflichte ihm da weitgehend bei. Ob es mehr Erfolg gehabt hätte, wenn es von Anfang an einen weltweiten Vertrieb gehabt hätte, ist aufgrund der allgemeinen Geschmacksverirrung in den 90ern fraglich. Allerdings ermöglicht der seltsame ZYX-Deal aber auch heute noch, dass das Album zumindest als Vinyl-Neuware oft für schlappe zehn Euro, auch als Picture Disc, erhältlich ist. Somit gibt es keine Ausreden für einen Nichtbesitz!
Noch ein paar Trivia:
-„Death or Glory“ endet bekanntlich mit einem deutsch geknurrten „Aufstääinn!“. Auf die Interviewfrage, was Lemmy mit diesem Kommando bezwecke, antwortete er, er wolle einfach, dass jeder, der der deutschen Sprache mächtig ist, am Ende dieses Songs aufsteht. Können wir gerne als forumsinterne Verhaltensregel beim Hören der Scheibe einführen.
-Das Artwork ist als eine Antwort von Stammzeichner Joe Petagno auf das nicht von ihm stammende und seiner Meinung nach grottenschlechte „March Ör Die“-Cover zu sehen, daher auch die Ähnlichkeiten in Grundidee und (nicht vorhandener) Farbgebung.
-Das Album war, wie erwähnt, jahrelang außerhalb Deutschlands nur als Import erhältlich. Erst die Steamhammer-Neuauflage brachte hier Abhilfe und wurde als zusätzlicher Kaufanreiz mit dem Rolling-Stones-Cover „Jumpin‘ Jack Flash“ aufgewertet.
-Seit ein paar Jahren ist das Album auch unter dem Namen „Death or Glory“ mit anderem Cover, aber identischem musikalischem Inhalt, erhältlich.
-Außerdem erschien 2017 eine „25th Anniversary Edition“, die neben einer CD- und einer Vinylversion diversen Nippes und Kappes, aber keinen musikalischen Mehrwert bietet.
Und was ich noch zu Motörhead sagen möchte:
Motörhead und ich, wir haben beide 1975 das Licht der Welt erblickt. Mit zwölf Jahren entdeckte ich die Band mittels eines kopierten Orgasmatron-Tapes für mich, und seitdem hat mich die Band nicht mehr losgelassen. Egal an welches prägende Ereignis in meinem Leben, abgesehen von den letzten drei Jahren, ich zurückdenke, es gab dazu immer eine Inkarnation der Band. Kilmister/Clarke/Taylor in meinen Kindergartentagen. Die Vierer-Line-Ups während meiner Pubertät und ihren Ausläufern. Das Trio mit Mikkey Dee, das mich bis in meine Tage als beginnender Ü40er begleitete. Ich brauchte lange, bis ich begriff, dass diese Selbstverständlichkeit nur eine scheinbare Konstante in meinem Leben war, und für lange Zeit nach Lemmys Tod fühlte es sich seltsam an, dass diese Parallele in meinem Leben nun nicht mehr da sein sollte, und Motörhead verschwand für eine Weile von meinem Plattenteller, nicht weil ich die Musik nicht mehr mochte, sondern weil ich den Verlust einer meiner ewigen Lieblingsbands und eines persönlichen Idols erst verarbeiten musste. Der Schock saß für eine Weile zu tief. Mittlerweile habe ich mich damit arrangiert und ich kann mich wieder an der kompromisslosen Musik und den oft genialen Texten erfreuen, abreagieren und aufbauen.
Und so läuft gerade „March ör Die“ im Hintergrund, und ich schwelge in Erinnerungen. Mein erstes Motörhead-Konzert vor ein paar hundert Nasen (vielleicht war es auch knapp vierstellig, jedenfalls ein Bruchteil vorheriger und späterer Zuschauerzahlen) 1995 in der Oberpfalzhalle Schwandorf. Die Heimfahrt, bei der das Pfeifen im Ohr das Motorengeräusch des Autos überlagerte. Die mitleidig lächelnden Blicke der Zeitgenossen in den 90ern, wenn ich mit dem klassischen „Motörhead England“-Shirt auf einer Party auftauchte. Der Zeltnachbar in Balingen, der sein Sitzenbleiben in der sechsten Klasse auf den Schock nach Fast Eddies Ausstieg zurückführte und mir von seiner (es war 1999) bereits 900 Stück starken Motörhead-Vinylsammlung erzählte. Die Hochzeitsfeier mit Frau Südstahl, bei der ein musikalisch versierter Kollege als Überraschung „I Ain’t No Nice Guy“ inklusive gelungener Lemmy-Verkleidung darbot und sich fünf Minuten danach als erstes den seltsamen Bart wieder abrasiert hatte, über den ich mich wochenlang gewundert hatte. Mein letztes Konzert in München sieben Wochen vor Lemmys Tod, bei der ich wie sonst fast auch immer in den vordersten Reihen den Rock’n’Roll hochleben ließ und in der Euphorie nichts von Lemmys schlechtem Zustand mitbekam.
Nicht zuletzt aber bin ich dankbar für die unzähligen Male, bei denen ein positiver Song wie „Going to Brazil“ meine gute Laune noch zu steigern wusste, ein „Stand“ meine Selbstzweifel wegwischte oder ein „Thunder and Lightning“ mich aus einem kleinen Tief herauszog. Und dieser Motörhead-Effekt wird noch lange bei mir funktionieren, denn auf ihre Weise ist diese einzigartige Band unsterblich. Oder wie der Maestro es live immer so schön ausdrückte:
„I don’t wanna live forever – but apparently I am!“