Wieso glaubst du, die allgemeine Unschuldsvermutung verteidigen zu müssen? Die steht doch nirgends zur Debatte.
Natürlich stand sie nicht zur Debatte, sie wurde unverzüglich einseitig aufgelöst.
Weder wenn Leute das Gebaren von Lindemann so schon schlimm genug finden, noch wenn Leute öffentlich dem Opfer Glauben schenken. Wir sind kein Gericht vor dessen Urteil Lindemann geschützt werden müsste.
Das mag sein, aber wir bewegen uns allesamt in einer Gesellschaft, die sich in eine bedenkliche Richtung entwickelt - übrigens nicht speziell wegen diesem gesonderten Fall. Der Umgang mit Social Media generell und insbesondere die inhärente vorschnelle Urteilsfindung im Internet wird uns zukünftig noch wesentlich stärker auf Trab halten.
Es ging auch nicht darum, dass du das speziell Frauen unterstellst, sondern dass du mit damit genau dann kommst, wenn eine Frau gerade von einem solchen Vorfall berichtet und sowieso schon tausende der geifernden Fans mit ihrem Hass überschüttet wird, weil jemand was gegen ihren "Star" sagt.
Zunächst einmal wurde die Dame nicht mit geiferndem Hass überschüttet - was ich im Übrigen ebenso für äußerst bedenklich halte, aber jetzt nichts ist, was im Internet ausschließlich geifernden Fans zueigen wäre -, sondern mit Offenheit und der klaren Aufforderung, umgehend die Polizei aufzusuchen und die Sache überprüfen zu lassen. Das hat sich dann sukzessive geändert, als sie sich zunehmend widersprach und ihre Schilderungen gefühlt alle halbe Stunde angepasst hat. Bevor das alles losging, hat sie die ganze Angelegenheit nämlich auf Reddit geteilt, wo ihr dann jede Menge Zuspruch zukam.
Ich komme deshalb "genau dann damit", weil es hier faktisch um eine Frau geht und nicht um einen Mann. Wäre es ein Mann gewesen, hätte ich dieselbe Formulierung gewählt, weil die digitalisierte Aufmerksamkeitssucht im aktuellen Zeitalter kein exklusives Frauen-Attribut ist.
Und wenn dir deine Widersprüchlichkeit nicht auffällt, weiß ich auch nicht, was ich dir dazu noch sagen soll. Wenn ich unbehelligt irgendwo hin gehen kann, muss ich keine Einstellung zu irgendwelchen Praktiken haben, weil ich mich dann ja nicht umbehelligt da hinbegeben könnte. Die Praktik die da gefahren wird, ist per se ziemlich Übergriffig. Es ist so ähnlich als ob man eine Frau auf Drinks einlädt und dafür Sex fest erwartet. Nur noch ein paar Nummern größer und systematisch und als groß angelegte Masche mit eigenem Personal.
Mich beschleicht allmählich eher der Eindruck, dass du nur das lesen willst, was du auch wirklich lesen willst. Was wir wissen: Man kann als Frau, die sich dort nach eindeutigen Kriterien bewerben kann, kostenlos auf das Konzert und Aftershow-Party, alkoholische Getränke sind ebenfalls kostenfrei. Da heutzutage eigentlich gar nichts kostenfrei ist außer der Tod, kann man eine ungefähre Ahnung davon entwickeln, dass es dabei nicht bleiben wird, sofern man denn möchte - und wenn man mit diesen Gedanken keine Probleme hat, kann man dementsprechend auch unbehelligt hin. Alles weitere, also etwaige Straftaten, die aus diesem - meiner Meinung nach - zu überdenkenden, zunächst aber eben nicht illegalem Gebaren resultieren > darum muss sich die jeweilige Exekutive nun kümmern - und die Gesellschaft, aber dazu komme ich gleich.
Wie hier im Thread schon desöfteren angedeutet, sollten wir als Gesellschaft grundsätzlich unsere Werte diskutieren und dabei auch darauf achten, wie man das reale und das digitale Leben irgendwie miteinander vereinbaren kann. Dabei geht es dann z.B. um Strukturen in den Musik- und Unterhaltungsbranchen. Wenn es ein offenes Geheimnis ist, wie es bei diversen Künstlern im Backstage zugeht, warum ist es dann überhaupt langfristig möglich? Warum habe ich nichts dagegen unternommen? Warum hast du nichts dagegen unternommen? Warum hat Person X nichts dagegen unternommen? Weil wir immer genau dann reagieren, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist und dann, und da kommt das Internet in's Spiel, hysterisch mit dem nackten Finger auf alle möglichen Personen zeigen und möglichst schnell einen Schuldigen finden wollen, obwohl wir eigentlich mit einem jahre-, nein, jahrzehntelangen Dulden dafür gesorgt haben, dass derartige Strukturen überhaupt Wurzeln schlagen konnten. Das betrifft dann wiederum auch vorangehende Generationen, in denen diese Ungleichheit der Geschlechter noch wesentlich stärker ausgebildet war (und wurde) als heute. Trotzdem gibt es diesbezüglich auch heute noch erheblichen Nachholbedarf - und zwar in nahezu allen Bereichen. Ich denke nur, dass das insbesondere mit Social Media einer Sisyphusaufgabe gleichen wird, wenn man sieht, mit was für materialistischem, sexistischem und dazu noch hochgradig belanglosem "Content" man einerseits seinen Lebensunterhalt bestreiten und andererseits eine große Masse beinflussen kann, was dann schlussendlich auch ein gewisses Bild in den Köpfen der Menschen einprägt.
Ich nenne keine Namen, aber auf Tiktok z.B. sind mir da Kerle begegnet, die mit exzessivem Alkoholismus oder ekelhaften Fressorgien ihre Millionen Follower bespaßen. Oder Kerle, die auf Weihnachtsmärkten Frauen vor laufender Kamera mehr oder weniger durch die Blume mit ihrem "Charme" zum Beischlaf bewegen, woraufhin die Kommentierenden ihm mit "Macher" über "Chad" bis hin zu "Ehrenmann" applaudieren. Oder Frauen, die sich vor laufender Kamera für Klicks wahlweise auf den Po klatschen oder die Wange küssen lassen, stets mit der Werbung für den eigenen OnlyFans-Account, mit dem man ohnehin schon fürstlich verdienen kann, versehen. Von den zigtausend anderen "Content Creator"-Persönlichkeiten sprechen wir da noch gar nicht. Das soll keine Relativierung sein, nur: wenn man auf diese Weise "Erfolg" haben kann, was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Da verwundert es auch kaum, dass derartige Strukturen überhaupt möglich sind und weitestgehend geduldet werden, dementsprechend auch mühselig abzubauen sind. Der Mensch, und das ist wirklich nur meine persönliche Meinung, stumpft in rasantem Tempo ab und verkommt dabei mehr und mehr zum belanglosen Hintergrundrauschen. Ab und zu regt man sich mal auf, um kurzzeitig zu spüren, dass man doch noch Puls hat, aber dann geht der Driss genauso weiter wie vorher. Ich bin davon leider auch nicht gänzlich frei, aber ebendiese Gewissheit ist schlussendlich auch der Grund für meinen eigenen Zwiespalt, den inneren Konflikt (z.B. bei diesem Thema, aber eben nicht nur) und das Misstrauen ggü. nahezu allem und jedem, was sich insbesondere online abspielt.
Avenged Sevenfold fassen es auf ihrem aktuellen Album trefflich zusammen: "
More power, more pace. More money, more taste. More sex, more pills. More skin, more shills. More wants, more needs. More hits, morphine. More speed, more drive. More self, more time. Build tall, build higher. Build far, build wider. Build here, build down. Build up, build now. Build out, build fast. Build strong, build vast. Build, build, build, build. Build, build, build, build." Ironischerweise sind sie mit ihrem NFT-Kasperltheater selbst darin gefangen (gewesen?), was die Ambivalenz verdeutlicht.
Vielleicht könnten wir klarer sehen, entschiedener gegen Missstände vorgehen, weniger misstrauisch sein, etc. pp., wenn wir dem Exzess und Überfluss abschwören und anschließend realisieren würden, dass sich nicht alles nur um das Wechselspiel zwischen Konsum und Aufmerksamkeit dreht.
Sorry für den TL;DR, also dass das jetzt so "philosophisch" geworden ist, aber manchmal schadet es vielleicht auch nicht, seine Gedanken schweifen zu lassen, wenn sie schon da sind.