Sagen wir es mal so: Wenn diese bekannte Frage "Warum erst jetzt?" nicht von einer juristisch zuständigen Person/Behörde im Rahmen ihrer juristischen Tätigkeit gestellt wird, dann hat diese Frage in den allermeisten Fällen ein Geschmäckle.
Sehe ich immer noch ein wenig anders, auch wenn ich durchaus verstehe, welche Leute und welche Situationen du meinst, einfach weil es durchaus eine allzu berechtigte Frage sein kann, und weil ich es schon so sehe, dass ich auch als "öffentlicher, medialer Richter" so lange von der Unschuld einer Person des öffentlichen Lebens ausgehen und sie nicht in Artikeln, Foren, Social Networks verurteilen sollte, bis ihre Schuld eben unumstößlich feststeht. Dies deshalb, weil auch ein "öffentliches Urteil" in solchen Medien für den Betroffenen völlig verheerende Folgen haben kann, die sich im Falle einer nachträglich festgestellten Unschuld oder geringeren Schuld, oft nicht mehr revidieren lassen. Daher meine ich, dass man sich selbst diese "Warum erst jetzt?"-Frage (und unzählige andere Fragen, im Bezug auf die Redlichkeit des Anklagenden), stets stellen sollte, bevor man jemanden öffentlich vom Hörensagen einer Verfehlung bezichtigt. Auch zum Selbstschutz im Übrigen, als Journalist ebenso wie als sonst zum öffentlichen Diskurs Beitragender, damit man nicht selbst in Straftatvorwürfe (Üble Nachrede, Verleumdung etc...) oder in Unterlassungsansprüche gerät.
Es ist halt ein Unterschied, ob man sagt: "Der Herr X hat schon früher das N-Wort benutzt, er ist offenbar ein Rassist.", oder ob man sagt "Der ehemalige Engineer von Herrn X hat der Zeitung Y gegenüber behauptet, dass Herr X ds N-Wort benutzt habe und somit Rassismusvorwürfen eine neue Spekulationsgrundlage beschert."
Das ist jetzt auch nicht die Klugscheißerei eines Juristen, sondern ich finde das Prinzip so fundamental wichtig, grundsätzlich niemals öffentlich Schlüsse zu ziehen, die zu einer Vorverurteilung einer Person führen, dass ich tatsächlich schon der Meinung bin, dass die Frage immer gestellt werden muss, bevor man sich überhaupt irgendwo zu einem neu erhobenen Vorwurf gegen eine Person des öffentlichen Lebens äußert.
Man kann sich da nur beispielhaft den Fall des bekannten Fernseh-Wetterfrosches K. ins Gedächtnis rufen. Hätten sich nicht jahrelang die Medien das Maul über den Vorfall zerrissen, ohne dass der Sachverhalt abschließend juristisch geklärt war, dann hätten wahrscheinlich beide Betroffenen heute ein besseres Leben. An ihm bleibt immer irgendwas hängen, ein "Gschmäckle", wenn man so will, und an ihr noch viel mehr. Hätte man das nicht exzessiv durch die Medien gezogen, wären am Ende Urteile gestanden, mit welchen hier der eine besser, die andere schlechter leben kann, aber für keinen der Beteiligten wären im öffentlichen Diskurs dauerhafte negative Stigmata verblieben. So muss der eine immerdar damit leben, dass er vielleicht doch ein Vergewaltiger, Wüstling, Sittenstrolch, Sexist sein könnte, und die andere damit, dass sie vielleicht eine Lügnerin, Verleumderin, Erpresserin ist, die sich auf Kosten eines Promis inszenieren oder bereichern wollte.
Daher wünsche ich mir unterm Strich an sich sowohl von den Medien als auch von jedem, der sich in Foren u.a. an einem öffentlichen Diskurs über mutmaßliche und tatsächliche Straftaten auslässt, eine gewisse Zurückhaltung sowohl im Vokabular als auch im Ziehen von voreiligen Schlüssen und vor allem im Verurteilen von Menschen auf Grundlage eines sehr eingeschränkten Ausschnitts aus ihrem Leben, den wir kennen. Das nicht leisten zu können oder nicht leisten zu wollen, ist zum großen Teil dafür verantwortlich, warum die Gräben in unserer Gesellschaft immer tiefer werden. Der mediale, öffentliche Diskurs ist vergiftet; es fehlt an der Bescheidenheit und an der Zurückhaltung im Rahmen der Kundgabe der eigenen Meinung und vor allem im Rahmen der Bewertung anderer Menschen.
Klingt nach "Wort zum Sonntag", sorry dafür, aber ich finde das schon sehr, sehr problematisch.