"Weiterentwicklung" (im Metal). Oder: die Illusion vom besseren Leben

MIBURN

Till Deaf Do Us Part
Ich habe mich vor kurzem gefragt, warum ein großer Teil der Hörerschaft (inkl. myself) 2016 wieder bei den Sounds angekommen ist, die bereits vor 30+ Jahren favorisiert wurden. Ich will die nun folgenden Gedanken nicht auf einem plumpen "Früher war alles besser"-Gerüst stützen, sondern in einen größeren Kontext einweben, der hoffentlich auch die rein musikalische Ebene transzendiert.

(Wenn der Thread hier nicht reinpasst, bitte woanders hin verschieben, mir fiel kein besserer Platz ein.)

Hier meine Gedanken dazu....

Ich höre Metal seit fast 30 Jahren und nun frage ich mich doch, warum viele Fans (und auch Bands) musikalisch wieder dahin zurückkehren, wo für viele alles begonnen hat. Dabei sind mir in den Diskussionen der letzten Jahre verschiedene Theorien untergekommen, die mich jedoch alle nicht als Erklärung für dieses (Retro-) Phänomen befriedigen konnten.

Einige sind der Meinung, dass der pure Konservatismus die Leute zurück zum "Retro"-hören/-spielen treibt. Vor allem die älteren Hörer bzw. Bands, die "nix anderes können" oder die zu "faul" sind, was "Neues" zu entdecken/ zu versuchen. Oder weil manche Fans beim Hören "alter" Musik nostalgische Gefühle ausleben können. Dagegen spricht, dass es auch jede Menge Jungvolk gibt, das auf "alte" oder zumindest "alt-klingende" Bands abfährt. Ich meine hier nicht nur den "Retro-Rock", sondern auch "Retro-Thrash", "Old School-BM" etc.pp.

Andere sagen, dass die "Leute" (auch durch die zwischenzeitliche Nu-Metal-Welle begünstigt) gemerkt haben, dass es letztendlich doch nix Besseres als z.B.: Maiden 1982 gibt. Kann man drüber reden, trifft IMO aber auch nicht wirklich zu.

Und manche sind der Meinung, dass sich Metal ja gar nicht weiterentwickeln "darf", die ganze Nu- oder -Core Welle nur ein bedauerliches Laborexperiment von gelangweilten BWL-Studenten war und man eh immer Vinyl, Kassetten und VHS favorisiert hat. Sympathisch, aber IMO auch nicht wirklich den Kern treffend.

Vor kurzem las ich nun ein Buch, dass sich mit einem bestimmten religiösen Phänomen beschäftigt hat und dabei sind mir zahlreiche Parallelen zum Metal aufgefallen, die nur auf den ersten Blick eventuell etwas weit hergeholt erscheinen mögen. Je mehr ich jedoch darüber nachdenke, desto mehr machen diese Parallelen für mich Sinn.

Zuerst einmal ist es sicher kein Zufall, dass Metal von vielen Fans eine geradezu religiöse Qualität attestiert bekommt, zumindest von denjenigen, für die er mehr als nur Musik ist. Metal geht häufig (nicht nur musikalisch gesehen) dahin wo es weh tut und beschäftigt sich mit Themen, denen gern in der "Gesellschaft" ausgewichen wird. Tod, Unglück, Depression, Hass, Scheitern usw. Also (im besten Fall): in die Tiefe. Und nur dort kann etwas (also auch Musik) eine religiöse Qualität entwickeln.

Laut Buch zeichnet sich nun ein wichtiges Merkmal echter Religiösität dadurch aus, dass der betreffende (religiöse) Mensch die BEGRENZUNG seiner Existenz (sowohl was die Dauer als auch das real Erreichbare) akzeptiert und aushält, statt den Schmerz über die Erkenntnis seiner Begrenzung mit dem süchtigen Such(t)en nach vermeintlich "Neuen" auszuagieren und dabei irgendwann feststellen muss, dass das "Neue" a) gar nicht wirklich so "neu" ist und er b) niemals seiner eigenen Begrenzung entfliehen kann, egal wieviel vermeintlich "Neues" er noch erreicht/entdeckt. Laut Buch liegt nun der eigentliche Wert dieser (oft bitteren) Erkenntnis darin, dass durch die Akzeptanz der eigenen Begrenzung erst wirkliche Spielräume innerhalb des real Machbaren frei werden.

Auf den Metal bezogen (und natürlich auch nur IMO!): Er ist gut so, wie er ist. Er braucht weder "neue" Experimente, noch "muss" er sich zwangsläufig "weiterentwickeln". Die immer mal wieder geforderte "Weiterentwicklung" ist im Kern eine Illusion und soll (hauptsächlich bei denen die sie fordern) verschleiern, dass sie die Begrenzheit des Genres nicht aushalten.

Oder anders gesprochen: Je weiter der Metal (nicht nur musikalisch betrachtet) in die Breite(n-wirksamkeit) geht, desto mehr verliert er seine religiöse Qualität.
Manche halten es nun aber nicht aus, dass Metal in dieser besonderen Qualität nur in der Tiefe, aber niemals in der Breite existieren kann, und versuchen an ihm rumzuzerren und verfälschen somit das, was ihn erst so wertvoll macht. Wer mit offenen Augen durch die "Szene" geht, kann die Beispiele dafür überall sehen.

Beipiel "Wacken". Ein "Musterbeispiel" dafür was passiert, wenn Menschen der Größenwahn befällt, weil sie es nicht aushalten "nur" ein Metalfestival zu unterhalten und deshalb glauben sich "weiterentwickeln" zu müssen. Flach. RTL. Ballermann. Der Tod der Gehirnzellen. Schlimmer: Der Tod der eigenen Identität. Gut für den Geldbeutel. Hohl für die Kopf. Natürlich kann man das alles mal machen. Keiner kann nur in der Tiefe leben. Manchmal muss es auch mal "Ballermann" sein. Aber keiner soll nur eine Sekunde lang glauben, dass es das ist, was Metal im Kern ausmacht und am Leben erhält.

Und damit wäre ich zum Schluß wieder am Ausgangspunkt: Ich glaube nämlich, dass der wahre Grund für den "Retroboom" darin zu finden ist, dass viele Fans (sicher unbewusst) die Begrenztheit des Genres akzeptiert haben, ohne deswegen in Depressionen, Gleichgültigkeit oder Aktionismus (NEU!GENREÜBERGREIFEND!DER NEUE HEIßE SCHEIß!!!) verfallen zu müssen.
 
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Naja, es ist ja nicht so, dass es nicht auch Neues gibt. Klar, momentan ist es trendy, einen Retro-Sound zu fahren. Warum auch nicht, es gibt ja offensichtlich viele, denen das gefällt. Aber es gibt doch trotzdem gerade im Metal Bereich genug, was es früher so nicht gab. Sicher nicht in allen Subgenres, dafür aber in anderen umso mehr :cool:.
 
Interessante Gedankengänge, @MIBURN! Ich bin auch der Meinung, dass sich die quasireligiöse Verehrung des Metal mit seinen Insignien und postulierten Lebenswelten bei etlichen Fans, vor allem Die Hards, beobachten lässt, bin mir jedoch nicht ganz sicher, welcher Impetus dahintersteckt. Die Akzeptanz der eigenen Endlichkeit und die Ventilation, ja, die Feier dieser ja nun doch recht unschönen Erkenntnis mittels Metalgenuss hab ich bislang noch gar nicht damit in Verbindung gebracht. Da muss ich mal drüber nachgrübeln...

Bislang hab ich für mich stets dreierlei Attraktoren ausgemacht, die den Metal für bestimmte Menschen anziehend machen:

Affirmation: Ich empfinde mich als die Art von Subjekt, die in Musik und Image des Metal portraitiert und überzeichnet wird und lebe diese genreimmanente Erzählung tatsächlich genauso im Alltag aus.

Projektion: Ich empfinde mich nicht als die Art von Subjekt, die in Musik und Image des Metal portraitiert und überzeichnet wird und lebe diese genreimmanente Erzählung im Alltag demenstprechend auch nicht aus, erfreue mich jedoch daran, dass Außenstehende dies durchaus gegenteilig wahrnehmen könnten.

Eskapismus: Ich wäre gern die Art von Subjekt, die in Musik und Image des Metal portraitiert und überzeichnet wird und würde diese genreimmanente Erzählung im Alltag gerne ausleben, was mir jedoch aus diesen oder jenen Gründen verunmöglicht ist, weswegen ich eigentlich sowieso lieber Conan, Graf Dracula oder zumindest ein knallharter Rock'n'Roll Outlaw wäre.
 
Interessante Gedankengänge, @MIBURN! Ich bin auch der Meinung, dass sich die quasireligiöse Verehrung des Metal mit seinen Insignien und postulierten Lebenswelten bei etlichen Fans, vor allem Die Hards, beobachten lässt, bin mir jedoch nicht ganz sicher, welcher Impetus dahintersteckt. Die Akzeptanz der eigenen Endlichkeit und die Ventilation, ja, die Feier dieser ja nun doch recht unschönen Erkenntnis mittels Metalgenuss hab ich bislang noch gar nicht damit in Verbindung gebracht. Da muss ich mal drüber nachgrübeln...

Bislang hab ich für mich stets dreierlei Attraktoren ausgemacht, die den Metal für bestimmte Menschen anziehend machen:

Affirmation: Ich empfinde mich als die Art von Subjekt, die in Musik und Image des Metal portraitiert und überzeichnet wird und lebe diese genreimmanente Erzählung tatsächlich genauso im Alltag aus.

Projektion: Ich empfinde mich nicht als die Art von Subjekt, die in Musik und Image des Metal portraitiert und überzeichnet wird und lebe diese genreimmanente Erzählung im Alltag demenstprechend auch nicht aus, erfreue mich jedoch daran, dass Außenstehende dies durchaus gegenteilig wahrnehmen könnten.

Eskapismus: Ich wäre gern die Art von Subjekt, die in Musik und Image des Metal portraitiert und überzeichnet wird und würde diese genreimmanente Erzählung im Alltag gerne ausleben, was mir jedoch aus diesen oder jenen Gründen verunmöglicht ist, weswegen ich eigentlich sowieso lieber Conan, Graf Dracula oder zumindest ein knallharter Rock'n'Roll Outlaw wäre.

Von dir hab ich jetzt auch am ehesten einen sinnvollen Beitrag erwartet.;)

Gut, ich hab mich mit meinen Gedankengängen sicher auch etwas aus dem Fenster gelehnt, was natürlich auch zu Unverständnis führen kann. Siehe @Lobi ;)

Aber ich bin schon ab und zu ein tiefsinniger Mensch und analysiere gern mal. Jedenfalls lieber als nur zu konsumieren. Und der Retro-Boom stellt sich für mich in der Tiefe schon als Reaktion auf die Begrenzung des Genres Metal dar. Was ich für mich nicht als schlimm erachte. Eher im Gegenteil.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Musikkritiker Simon Reynolds hat ein sehr interessantes Buch zu dem Thema verfasst: Retromania - Pop Culture's Addiction to Its Own Past, worin er das Retro-Phänomen u.a. an der nahezu lückenlosen und allumfassenden Verfügbarkeit von popkulturellem Material im Internet-Zeitalter festmacht. So werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins, denn nie war es leichter, sich aus einem solch gewaltigen Fundus mühelos zu bedienen.

Sehr lesenswert, wie ich finde:

retromania.jpg


Das spielt dann womöglich auch wieder in die von @MIBURN attestierte Ur-Motivation rein, nämlich der Akzeptanz der eigenen Endlichkeit, die sich durch ein solches Zusammenführen verschiedener Epochen und somit der vermeintlichen und gefühlten Auflösung der Zeit oder zumindest der Chronologie, überwinden wenn nicht transzendieren lässt.
 
Das Buch hab ich noch nicht gelesen, deshalb kann ich mir auch noch kein Urteil darüber erlauben, ob sich seine Erkenntnisse mit meinen irgendwo überschneiden. Nur soviel: Meine Vermutungen speisen sich nicht aus Popkulturellen Untersuchungen.

Meine Gedankengänge beziehen sich aber tatsächlich NUR auf den Retro-Boom und die Ursachen dahinter. Ich will damit nicht in Abrede stellen, dass sich der Metal in den Augen vieler "weiterentwickelt" hat. Oder es mehr Abzweigungen gibt. Meine Schlußfolgerungen daraus sind nur andere.
 
War auch mehr so flapsig gemeint. Wobei es ja durchaus Überschneidungen gibt bei derlei massenwirksamen Phänomenen. Vielleicht ist der vereinende Anknüpfungspunkt sogar ein- und derselbe, wenngleich ästhetisch (weniger) und lebenspraktisch (eher schon) divergierend ausgeprägt, nämlich die Sehnsucht nach Erlösung...
 
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Die Parallele zur Religion macht meiner Meinung nach nicht wirklich Sinn - das einzige was Metal und die dazugehörige(n) Subkultur(en) mit Religion (und sehr vielen anderen Dingen) verbindet, ist, dass die Menschen alles mögliche hineininterpretieren und ihrer eigenen Lebenssituation entsprechend "aufladen".

Ich habe das noch nicht wirklich durchgedacht, aber meine erste Idee wäre wohl, dass zB der Retro-Boom eine Frage von "Werten" ist - damit meine ich das, was eine bestimmte Gruppe an Personen an einer Musik, an einer Subkultur als "wertvoll", empfindet. Wenn man sich darauf geeinigt hat, was wünschenswert ist, läuft ein Definierungsprozess an, bei dem die Leute darüber streiten, ob Band X oder Veröffentlichung Y den Kriterien gerecht wird oder nicht. Im "Deaf Forever"-Teil der Metal-Subkultur(en) werden Eigenschaften groß geschrieben, die man im weitesten Sinne unter dem Überbegriff "Authentizität" zusammenfassen könnte. Also eine kollektive Einbildung darüber, was die Worte "echt", "handgemacht", "bodenständig", "traditionell" usw. bedeuten. Man könnte jetzt großartig darüber spekulieren, wieso "Authentizität" aus allen verfügbaren Ideen gerade so ziemlich überall Konjunktur hat, aber das lasse ich mal, das endet eh immer nur bei "Globalisierung" und "Entwurzelung" ;)

Andere Fangruppen orientieren sich nach anderen Überbegriffen ("Innovation", "musikalischer Anspruch" ...), die natürlich die auf "Authentizität" Ausgerichteten ebenfalls in ihrem Vokabular haben, aber einfach nicht so hoch bewerten oder so genau ausdefinieren.

"Weiterentwickeln" im Sinn von verändern tut sich die Musik und die Subkultur sowieso. Die Frage ist nur ob man es wissen will. Man kann sich auch mit Gleichgesinnten auf einen Haufen setzen und sich darauf einigen dass man diese Veränderungen so gut es eben geht ausblendet (zB KIT). Das gleiche machen Leute mit anderen "Werten" auch: wenn zB einer überzeugt ist, Metal sei das innovativste, revolutionärste Genre überhaupt, wird er sein Festivalpublikum eher nicht mit Venom Inc. belästigen. Usw.
 
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War auch mehr so flapsig gemeint. Wobei es ja durchaus Überschneidungen gibt bei derlei massenwirksamen Phänomenen. Vielleicht ist der vereinende Anknüpfungspunkt sogar ein- und derselbe, wenngleich ästhetisch (weniger) und lebenspraktisch (eher schon) divergierend ausgeprägt, nämlich die Sehnsucht nach Erlösung...

Richtig. Aber eine wirkliche Religion müsste anerkennen, dass es in dieser Welt keine gibt. Um zum Thema zurückzukommen: Ich kenne jedenfalls keinen Metaltext (der etwas bedeutet), der sich nicht knallhart dieser Realität stellt. Beispiele: "Angel of Death", "One" etc. Deshalb kommt IMO auf mehreren Ebenen dem Metal (wenn er sich ernst nimmt) durchaus eine religiöse Qualität zu.
 
Interessanter Gedankenaustausch, auch wenn ich dazu wohl nicht viel beitragen kann: ich versuche schon bei mir selbst nicht zu analysieren, warum mich die Musik von Band X anspricht / ausrasten lässt und die von Band Y mich kalt lässt. Umso weniger mache ich das dann natürlich bei anderen.

Aber natürlich habe ich auch bei mir beobachtet, dass ich mehr nach 'schmeckt wie früher' als 'der neue heiße Scheiß' suche. Ist vielleicht auch so eine Art Trotzreaktion, von wegen 'Ist der Metal tot?' - 'Metal will never die!'. Oder (in meinem Fall) doch einfach nur das Alter? Eine Suche nach Geborgenheit, Vertrautheit? Im positiven Sinne konservativ?

Und braucht Metal Grenzen? Ich denke schon: nicht im Sinne von 'wir gegen die anderen', aber zur Standortbestimmung. 'ne Band muss ja keinen Metal spielen, um gute Musik zu machen. Aber irgendwann ist es halt Jazz...

Ich glaub, ich überlasse das Thema lieber euch... :)
 
Im "Deaf Forever"-Teil der Metal-Subkultur(en) werden Eigenschaften groß geschrieben, die man im weitesten Sinne unter dem Überbegriff "Authentizität" zusammenfassen könnte. Also eine kollektive Einbildung darüber, was die Worte "echt", "handgemacht", "bodenständig", "traditionell" usw. bedeuten.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass bei der Gründung des "Deaf Forever" auch der Begriff "Abgrenzung" eine gewichtige Rolle spielte.
 
Man kann in viele Dinge quasi-religiöse Elemente hinein interpretieren, vom Frühstück bis zum Gang zur Discount-Domina im Dorfpuff, vor allem aus subjetiver Perspektive, aus einer Verehrungshaltung heraus. Der Knackpunkt ist und bleibt, dass Religion ein geschlossenes Weltbild und Wertesystem bietet. Das bietet kein Musikgenere, nicht mal sich ernstnehmender Metal.

Hinter den Retro-Wellen der letzten 20 Jahre sehe ich auch keine irgendwie gelagerte Erkenntnis, sondern eher ein Mischung aus Sehnsucht oder Nostalgie (derjenigen, die das Original erlebten) und Modeerscheinung. Das ist nicht abwertend gemeint. Aber diese Wellen kamen und gingen wieder. Und nicht nur im Metal ist das so. Für verklärte Überhöhungen sehe ich hier keinen Platz.
 
Man kann in viele Dinge quasi-religiöse Elemente hinein interpretieren, vom Frühstück bis zum Gang zur Discount-Domina im Dorfpuff, vor allem aus subjetiver Perspektive, aus einer Verehrungshaltung heraus. Der Knackpunkt ist und bleibt, dass Religion ein geschlossenes Weltbild und Wertesystem bietet. Das bietet kein Musikgenere, nicht mal sich ernstnehmender Metal.

Hinter den Retro-Wellen der letzten 20 Jahre sehe ich auch keine irgendwie gelagerte Erkenntnis, sondern eher ein Mischung aus Sehnsucht oder Nostalgie (derjenigen, die das Original erlebten) und Modeerscheinung. Das ist nicht abwertend gemeint. Aber diese Wellen kamen und gingen wieder. Und nicht nur im Metal ist das so. Für verklärte Überhöhungen sehe ich hier keinen Platz.

Musst ja nicht mitdiskutieren.
 
Ich habe mich vor kurzem gefragt, warum ein großer Teil der Hörerschaft (inkl. myself) 2016 wieder bei den Sounds angekommen ist, die bereits vor 30+ Jahren favorisiert wurden. Ich will die nun folgenden Gedanken nicht auf einem plumpen "Früher war alles besser"-Gerüst stützen, sondern in einen größeren Kontext einweben, der hoffentlich auch die rein musikalische Ebene transzendiert.

(Wenn der Thread hier nicht reinpasst, bitte woanders hin verschieben, mir fiel kein besserer Platz ein.)

Hier meine Gedanken dazu....

Ich höre Metal seit fast 30 Jahren und nun frage ich mich doch, warum viele Fans (und auch Bands) musikalisch wieder dahin zurückkehren, wo für viele alles begonnen hat. Dabei sind mir in den Diskussionen der letzten Jahre verschiedene Theorien untergekommen, die mich jedoch alle nicht als Erklärung für dieses (Retro-) Phänomen befriedigen konnten.

Einige sind der Meinung, dass der pure Konservatismus die Leute zurück zum "Retro"-hören/-spielen treibt. Vor allem die älteren Hörer bzw. Bands, die "nix anderes können" oder die zu "faul" sind, was "Neues" zu entdecken/ zu versuchen. Oder weil manche Fans beim Hören "alter" Musik nostalgische Gefühle ausleben können. Dagegen spricht, dass es auch jede Menge Jungvolk gibt, das auf "alte" oder zumindest "alt-klingende" Bands abfährt. Ich meine hier nicht nur den "Retro-Rock", sondern auch "Retro-Thrash", "Old School-BM" etc.pp.

Andere sagen, dass die "Leute" (auch durch die zwischenzeitliche Nu-Metal-Welle begünstigt) gemerkt haben, dass es letztendlich doch nix Besseres als z.B.: Maiden 1982 gibt. Kann man drüber reden, trifft IMO aber auch nicht wirklich zu.

Und manche sind der Meinung, dass sich Metal ja gar nicht weiterentwickeln "darf", die ganze Nu- oder -Core Welle nur ein bedauerliches Laborexperiment von gelangweilten BWL-Studenten war und man eh immer Vinyl, Kassetten und VHS favorisiert hat. Sympathisch, aber IMO auch nicht wirklich den Kern treffend.

Vor kurzem las ich nun ein Buch, dass sich mit einem bestimmten religiösen Phänomen beschäftigt hat und dabei sind mir zahlreiche Parallelen zum Metal aufgefallen, die nur auf den ersten Blick eventuell etwas weit hergeholt erscheinen mögen. Je mehr ich jedoch darüber nachdenke, desto mehr machen diese Parallelen für mich Sinn.

Zuerst einmal ist es sicher kein Zufall, dass Metal von vielen Fans eine geradezu religiöse Qualität attestiert bekommt, zumindest von denjenigen, für die er mehr als nur Musik ist. Metal geht häufig (nicht nur musikalisch gesehen) dahin wo es weh tut und beschäftigt sich mit Themen, denen gern in der "Gesellschaft" ausgewichen wird. Tod, Unglück, Depression, Hass, Scheitern usw. Also (im besten Fall): in die Tiefe. Und nur dort kann etwas (also auch Musik) eine religiöse Qualität entwickeln.

Laut Buch zeichnet sich nun ein wichtiges Merkmal echter Religiösität dadurch aus, dass der betreffende (religiöse) Mensch die BEGRENZUNG seiner Existenz (sowohl was die Dauer als auch das real Erreichbare) akzeptiert und aushält, statt den Schmerz über die Erkenntnis seiner Begrenzung mit dem süchtigen Such(t)en nach vermeintlich "Neuen" auszuagieren und dabei irgendwann feststellen muss, dass das "Neue" a) gar nicht wirklich so "neu" ist und er b) niemals seiner eigenen Begrenzung entfliehen kann, egal wieviel vermeintlich "Neues" er noch erreicht/entdeckt. Laut Buch liegt nun der eigentliche Wert dieser (oft bitteren) Erkenntnis darin, dass durch die Akzeptanz der eigenen Begrenzung erst wirkliche Spielräume innerhalb des real Machbaren frei werden.

Auf den Metal bezogen (und natürlich auch nur IMO!): Er ist gut so, wie er ist. Er braucht weder "neue" Experimente, noch "muss" er sich zwangsläufig "weiterentwickeln". Die immer mal wieder geforderte "Weiterentwicklung" ist im Kern eine Illusion und soll (hauptsächlich bei denen die sie fordern) verschleiern, dass sie die Begrenzheit des Genres nicht aushalten.

Oder anders geprochen: Je weiter der Metal (nicht nur musikalisch betrachtet) in die Breite(n-wirksamkeit) geht, desto mehr verliert er seine religiöse Qualität.
Manche halten es nun aber nicht aus, dass Metal in dieser besonderen Qualität nur in der Tiefe, aber niemals in der Breite existieren kann, und versuchen an ihm rumzuzerren und verfälschen somit das, was ihn erst so wertvoll macht. Wer mit offenen Augen durch die "Szene" geht, kann die Beispiele dafür überall sehen.

Beipiel "Wacken". Ein "Musterbeispiel" dafür was passiert, wenn Menschen der Größenwahn befällt, weil sie es nicht aushalten "nur" ein Metalfestival zu unterhalten und deshalb glauben sich "weiterentwickeln" zu müssen. Flach. RTL. Ballermann. Der Tod der Gehirnzellen. Schlimmer: Der Tod der eigenen Identität. Gut für den Geldbeutel. Hohl für die Kopf. Natürlich kann man das alles mal machen. Keiner kann nur in der Tiefe leben. Manchmal muss es auch mal "Ballermann" sein. Aber keiner soll nur eine Sekunde lang glauben, dass es das ist, was Metal im Kern ausmacht und am Leben erhält.

Und damit wäre ich zum Schluß wieder am Ausgangspunkt: Ich glaube nämlich, dass der wahre Grund für den "Retroboom" darin zu finden ist, dass viele Fans (sicher unbewusst) die Begrenztheit des Genres akzeptiert haben, ohne deswegen in Depressionen, Gleichgültigkeit oder Aktionismus (NEU!GENREÜBERGREIFEND!DER NEUE HEIßE SCHEIß!!!) verfallen zu müssen.


Für mich ist Metal keine Religion. Aber Metal hat mir oft in schweren Zeiten ein Ventil, eine Art Zufluchtsort gegeben. Ich bin als kleiner Steppke mit 70er-Jahre-Pop/Disco/Rock-Compilations sozialisiert worden und habe Musik gehört, ohne die Genres zu unterscheiden. Es war einfach nur Mucke, die mir gefiel und die, die mir nicht gefiel. Irgendwann hörte ich im Radio härtere Klänge, die dann gleichberechtigt neben dem Pop standen. Gewandelt hat sich das erst in der Pubertät. Nur Metal. Hart und härter. Mittlerweile höre ich wieder querbeet, zu 85 Prozent aber noch Metal. Ich habe sowohl an alte Popmusik als auch Metal gute Erinnerungen. Die Retrogeschichte finde ich absolut unspannend. Denn ich habe lange normalen Metal ignoriert, von Blind Guardian und wenigen anderen Bands abgesehen. Auch alter Rock hat mich nicht übermäßig interessiert. Schon vor der Retrowelle hab ich mir aber schon ein paar alte Sachen geholt, als die Mucke nicht mehr "nur hart" sein musste. Dann kamen plötzlich die ganzen Bands, die "alt" sein wollten. Nur: Ich will die gar nicht hören, weil ich soviele "echte" alte Sachen noch nicht kenne. Ich sehe gar nicht ein, mir eine nach Endsechzigerrock klingende Milchbubiband reinzuziehen. Aber auch die Stile, mit denen ich Metal entdeckte, lösen - wie Du schon selbst erfahren hast - nicht mehr den Haben-wollen-Reflex aus. Das Neue fehlt, ich persönlich verzeihe da aber eher den alten Bands aus der Entstehungszeit der betreffenden Stile. Ganz krass geht mir das beim Thrash so. Neue Bands fahren nur Riffgewichse auf, keine Songs. Nur brutal kann jeder, das ist keine Kunst. Kunst ist, wenn was im Kopf bleibt, wenn man was zum NAchdenken hat usw.. In meiner letzten Phase mit wenig verfügbarem Geld habe ich gelernt, dass ich nicht mehr alles haben muss. Ich höre mehr probe, bin kritischer. Der Kaufrausch, die "Sucht", gibt es nicht mehr. Ich glaube, dass beispielsweise das Kaufen auch eine Art Selbstbelohnung darstellt. Ich bin kein Psychologe, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass sich viele durch das "boah, gleich bestellt" oder "wird gekauft" etc. auch eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe wünschen. Durch den Kauf desselben Produkts bekommt das Individuum das Gefühl, was richtig gemacht zu haben. Es glaubt, es "gehört dazu". Kann mich auch täuschen, aber es steckt da für mich weniger REligion als die Suche nach Anerkennung oder Zugehörigkeit eine Rolle. Sollte jetzt nicht so oberlehrerhaft rüberkommen, aber es ist halt mein Eindruck. Vielleicht, weil ich mich selbst auch etwas reflektiere. Ich will mich ja nicht ausnehmen. Bei einem ists halt stark, bei anderen weniger stark ausgeprägt. Ähm...jetzt hab ich den Faden verloren...
 
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Und manche sind der Meinung, dass sich Metal ja gar nicht weiterentwickeln "darf", die ganze Nu- oder -Core Welle nur ein bedauerliches Laborexperiment von gelangweilten BWL-Studenten war und man eh immer Vinyl, Kassetten und VHS favorisiert hat.
Ich denke so ziemlich genau das wäre dann meine Meinung zu dem Thema:)
 
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