Das neue Album soll also am Freitag nun erscheinen.
Es ist das erste der Band, auf dessen VÖ ich mich freuen darf. Denn ich höre erst seit wenigen Jahren wieder Rockmusik und erst seit zweien Harem Scarem.
@Vauxdvihl: Fantastische Übersicht, die Du da eingestellt hast! Damit sind schon so viele Dinge angesprochen, so viele Tips gegeben und so viele Fragen beantwortet, daß ich mich vorwiegend persönlich fassen kann. Wer Fanboy-Gequassel nicht so mag, der wird es schwer haben mit diesem Beitrag. Ein paar Facts kommen aber auch noch.
Die Musik von Harem Scarem bedeutet mir irrsinnig viel. Ich habe diese Band durch einen Zufall erst im Januar 2018 kennengelernt. Dann allerdings in kurzer Zeit alle Alben gekauft und alle in den Erstpressungen, was ein bißchen Aufwand bedeutete, aber diesen Tick hab´ ich nunmal.
Zunächst lief erstmal das Debut - und es hat mich umgehauen. Ich konnte und ich kann noch immer nicht recht fassen, wie sehr aus einem Guß hier musiziert wird und wie genial die Melodien und die vokalen Harmonien angelegt sind.
„Harem Scarem“ von 1991 ist sicherlich nicht das tiefgründigste Album seines Genres, doch es ist eines der besten Debutalben, die ich kenne. Es ist im Vergleich zu seinen Nachfolgern noch etwas softer, was ihm aber äußerst gut bekommt, man kann so richtig in der untergangsgeweihten Spät-80er-Stimmung schwelgen, die hier auf allerhöchstem Niveau zelebriert wird. Im letzten Song der Scheibe, “Something to say“, kulminieren die Wehmut, die melodische Schönheit, die Sanftheit und die Aggressivität der Leadstimme aufs Wundervollste.
Manches ist vielleicht ein bißchen kitschig, mag man finden, doch das war und ist bei Harem Scarem immer so. Die Coolness-Polizei wird hier an jeder Ecke fündig werden können, wenn sie will, und ein kleines Verbrechen gegen jene breitbeinige Rüpelposerei der meisten Classic-Rock-Bands lauert bei der Musik von Harem Scarem beinahe hinter jeder Biegung.
Harry Hess, Pete Lesperance und ihre Mitstreiter sind nie Inszenatoren ihrer selbst gewesen. Wahrscheinlich stand ihnen genau das auch ein bißchen im Weg, zumindest was die Breitenwirkung ihrer Karriere betraf. Ich bin sehr froh, daß sie normal und dreißig Jahre lang die netten Jungs von nebenan geblieben sind .
Das nächste Album hieß „Mood Swings“ von 1993 und es ist zurecht der Fan-Favorit und Klassiker geworden, als den es schon kurz nach seinem Erscheinen viele betrachtet haben müssen. Der Sound ist deutlich härter als auf dem Debutalbum und viele Songs hatten jetzt mehr Dynamik intus. „If there was a time“ ist mein absoluter Lieblingssong der Band und krempelt mir auch heute noch, nach dem vermutlich drei-, vierhundertsten Hören, mit Leichtigkeit die Seele auf links.
Dann kam im Jahr 1995 das Album „Voice Of Reason“ und es spaltete die Fangemeinde in zwei Lager. Die einen trauerten der leichter verdaulichen AOR-Eingängigkeit nach, die anderen begrüßten freudig eine neue Schwermut und vor allem neue und merklich komplexere Ausdrucksmöglichkeiten dieser Band. „Voice Of Reason“ ist in vieler Hinsicht sicher das „hochwertigste“ und, wenn man so möchte,„progressivste“ Album von Harem Scarem geworden. Die Songs sind ausgefeilt bis beinahe schon zum Art-Rock-Charakter, ohne daß hingegen jene wundervollen Melodien flöten gegangen wären, welche die DNA der Band darstellen.
Wenn ich die „Voice Of Reason“ höre, bin ich immer wie gebannt und kann die Abfolge der ersten sechs Songs niemals unterbrechen, denn in ihnen folgt Ausnahmemoment auf Ausnahmemoment. Diese Symbiose von melodischer Erhabenheit, harmonischer Finesse, künstlerischem Anspruch und musikalischer Härte haben Harem Scarem nie wieder so erreicht. Und auch die Lyrics bewegen sich hier auf Weltklasse-Niveau, sie sind extrem poetisch, aggressiv bisweilen und vor allem unfaßbar gut mit der Musik verwoben.
Ich glaube, an keiner Platte dürften Hess & Co so viel gewerkelt haben wie an dieser. „Voice Of Reason“ ist somit ihr „Pet Sounds“ oder „Sgt. Pepper“, nur wesentlich rockiger und auch melancholischer.
1997 erschien „Karma Cleansing“, das immer ein wenig untergeht in den meisten Fan-Listen. Verwirrend ist, wie
@Vauxdvihl schon ausgeführt hat, daß das Album in Japan „Believe“ hieß und eine sehr veränderte Songabfolge aufwies. Den Übersong „Rain“ (meine meistgeliebte HS-Ballade) gibt es so einmal in der Akustikversion und einmal mit der ganzen Band, wobei erstere vorzuziehen ist. Auf „Karma Cleansing“ findet man noch immer viele Elemente der Geniezeit dieser Band, sprich Ähnlichkeiten mit „Mood Swings“ und „Voice Of Reason“. Einige der Songs brauchen Zeit zum Wachsen.
Nach „Karma Cleansing“ wurde es duster bei Harem Scarem, denn die fröhliche Belanglosigkeit des Pop-Punk hielt in ihre Musik Einzug. Worunter bereits „Big Bang Theory“ sehr litt, das brach auf den beiden Rubber-Alben mit epidemischer Wucht über uns herein: Quietschige Sommerferienmucke, die Hörer-Depressionen auszulösen vermochte. Die meisten Fans packten die Band in Quarantäne, bis sie sich wieder „Harem Scarem“ nannte und wieder ein Album machte, das ihrer und der Aufmerksamkeit der Fans würdig war.
„Weight Of The World“ hieß diese Großtat von 2002, ein Album ohne Fehl und Tadel, das viel Punch hatte und mit coolem Zeugs garniert war. Wie außergewöhnlich hoch die Qualität der Songs auf diesem Album war, ersieht man schon daran, daß ein emotionales Meisterwerk wie „End of time“ lediglich als japanischer Bonustrack erschien und auf den Pressungen ihres neuen Labels Frontiers für Nordamerika und Europa fehlte. „Weight Of The World“ rockt wie die Hölle, ganz besonders gut der letzte Song, „Voice inside“. In der Ballade dieser Scheibe, „This ain´t over“, findet man allerdings auch, daß Harrys Gesang zum ersten Mal in Mainstream-Manierismen abgleitet.
Dennoch ein Wahnsinns-Album, dessen Cover mir so sehr gefallen hat, daß ich im Jahr 2018 fast an jedem freien Tag allein und in Begleitung in die Niederlande aufgebrochen bin, um in einer mir noch unbekannten Stadt (klein oder größer) nach dem Ort zu fahnden, wo das Coverfoto aufgenommen worden ist. Da ich nun bis auf die allernördlichsten Provinzen, von denen ich aus architektonischen Gründen nicht annehme, daß sie da infrage kommen, jede Stadt durchhabe, muß ich annehmen, es ist in Belgien geschossen worden. Zu dumm. Aber es hat trotzdem Spaß gemacht.
Bereits im nächsten Jahr, 2003, erschien „Higher“, dazu hat
@Vauxdvihl aus seiner Sicht bereits alles sehr, sehr schön gesagt. Die Platten, die dann kamen, sind für mich allerdings die zweiten „Dark Ages“ der Band. „Overload“ (2005), „Human Nature (2007) und „Hope“ (2008) hatten mit der Klasse von „Weight Of The World“ und „Higher“ nicht mehr viel gemein, wenngleich natürlich ein paar nette Melodien abfielen.
Nach „Hope“ löste sich die Band, ermüdet von den ewiggleichen Abläufen und eventuell auch desillusioniert von ihrem damaligen Kreativitätsoutput, auf. Für immer, wie es schien. Erst ein paar Jahre später rafften sie sich wieder auf, spielten „Mood Swings“ noch einmal ein, um selbst die Rechte an den Aufnahmen zu haben, und dann erschienen endlich wieder zwei Studioalben mit neuem Material.
War „Thirteen“ von 2014 noch eine etwas halbgare Wiederauferstehung, die aber ihre Momente hatte, so flashte mich „United“ aus dem Jahr 2017 vollständig! Das waren die alten, neuen Harem Scarem, in voller Blüte und mit umwerfenden Einfällen. Nie werde ich den Moment vergessen, als ich zum ersten Mal „One of life´s mysteries“ gehört habe! Ich glaube, das war sogar der allererste Song der Band, dem ich jemals (und zwar via YT) lauschte. Ich weiß noch, wie angewurzelt ich da vor dem Rechner saß. Wie berührt und wie begeistert.
Und das ist nicht einmal der beste Song der Platte. Bis auf lediglich zwei Tracks, die mir doch etwas zu sehr kitschen („Gravity“ und "Sky is falling"), haut dieses Album alles weg in Grund und Boden, was in diesen Jahren sonst noch im melodischen Hard Rock passierte.
Vom neuen Album erwarte ich - offen gesagt - kein neues „United“. Das werden sie so schnell nicht nochmal hinbekommen. Eher ein zweites „Thirteen“ (also quasi „Fifteen“). Der Vorabsong hat mich nicht gerade für sich eingenommen, ich höre da zuviele Paralleln mit den wenig geschätzten Alben aus der zweiten Hälfte der Nullerjahre raus.
Aber natürlich bin ich doch gespannt wie der berühmte Flitzebogen und werde die Platte am VÖ-Tag in meinem Plattenladen abholen. Denn diese Band bedeutet mir, ich sagte es ja schon, sehr viel.
Die Musik von Harem Scarem baut mich auf, wenn ich am Boden bin, sie bringt mich auf andere Gedanken, wenn ich mich mal festgefahren habe.
Wenn ich am Morgen eines der drei Zuversichtlichkeits-Alben der Band einlege, also wahlweise das selbstbetitelte Debut, „United“ oder „Higher“, weiß ich, daß mir nichts passieren kann an diesem Tag, egal was ansteht.
Im Auto und auch zuhause im Muskzimmer singe ich IMMER mit, egal ob Leadstimme, die Harmonien oder auch ein Instrument (Pete Lesperances Gitarrenparts haben alle eminente vokale Qualität).
Und ganz zuletzt vielleicht noch meine Lieblingsalben, wen´s denn interessieren sollte, wir reden hier natürl. ausschließlich von 10-oder 9-Punkte-Platten!
1. Mood Swings (1993)
2. Voice Of Reason (1995)
3. Weight Of The World (2002)
4. Karma Cleansing (1997)
5. Harem Scarem (1991)
6. United (2019)
7. Higher (2003)