Hail Spirit Noir – Mayhem In Blue
Stil: psychedelischer, südosteuropäischer End-Sixties Black Metal
VÖ: 28.10.2016
1. I Mean You Harm 03:55
2. Mayhem In Blue 07:57
3. Riders To Utopia 04:38
4. Lost In Satan's Charms 10:52
5. The Cannibal Tribe Came From The Sea 06:51
6. How To Fly In Blackness 06:16
Hail Spirit Noir sind eine Band, die zur Speerspitze der aktuellen Metal-Welt zählt – zwar nicht, wenn es um Popularität und Bekanntheitsgrad, wohl aber, wenn es um Innovation und Erneuerung geht. „Mayhem In Blue“ ist ihr drittes Werk nach „Pneuma“ (2012) und „Oi Magoi“ (2014), es wird sicherlich wieder mehr oder minder unter dem Radar einer breiteren Öffentlichkeit durchfliegen, eigentlich aber hätte es maximale Aufmerksamkeit verdient.
Black Metal ist hier nur eine äußerst vage Umschreibung, doch auch die beiden Vorgänger waren sicher grenzsprengend genug. Griechenland ist nun ohnehin dafür bekannt, immer mal wieder erfrischend andere Perspektiven auf den Black Metal zu eröffnen; in der Tat schmeckt man aus vielen der dort erdachten Notenfolgen die Sonne und Reben Hellas' anstelle frostklirrender Nordnächte. Hier nun, bei Hail Spirit Noir, wird das Bouquet vollmundig abgerundet durch die komplette als auch kompetente Verquickung mit südeuropäischen Zigeuner- (der Begriff soll hier nicht abwertend, sondern in seiner romantisierten Lesart aufgenommen werden) und Karnevalstaumeln, querbeet durchgeorgelt und beschwingt durch den Fleischwolf gedreht. Sämtliche Synapsen stimulierend, massierend sowie in keinster Weise abweisend-komplex, verwirrend oder gar sinnfrei. Ein Gedankenspiel: dies hier könnte Proto-Black Metal sein, das erste Black Metal-Album der Welt, in einem Paralleluniversum zu Zeiten von Psychedelia und Krautrock veröffentlicht. Ansonsten könnte es auch der Soundtrack zu einem cineastischen Leckerbissen irgendwo zwischen „Schöne Isabella“ und „Die Nacht der reitenden Leichen“ sein. Und wenn man schon diesen hypothetischen Film niemals zu Gesicht bekommen wird, so ist es allemal eine Offenbarung, wenigstens der vermeintlichen Musik dazu lauschen zu können.
„Mayhem In Blue“ ist ein verschrobenes, verqueres, spinnertes und wahnsinnig erfrischendes, kreatives und verwunschenes Zauberwerk, das zeigt, dass da draußen doch noch nicht zwangsläufig alles gesagt sein muss, auch wenn die Inhalte an und für sich natürlich alle schon einmal dagewesen sind. Dieses Album ist wie ein bizarrer Ritt auf dem Hexenbesen über zerklüftete Felsküsten, mit einer Buddel Rum an den Lippen – während sich an den Gestaden die Hexen von Shakespeare gemeinsam mit Satyrn und Kobolden ein Stelldichein geben, alldieweil sich durch die verwunschenen Küstenwälder ein obskurer Karneval voll Magie und Schabernack nähert und Wesen mit Pestmasken dazu begierig die Galgenglocken läuten.
Die Stimme klingt immer mal wieder nach einem spritzigen Mix aus A Forest Of Stars und Aldrahn, bereits die Titel der Lieder machen Lust auf das, wovon sie hier erzählt: über die Meere daher segelnde Kannibalenstämme, ein Flug durch die Schwärze, das Unterwegssein nach Utopia, schwarzmagische Beschwörungszauber des Satans, in welchen man sich verliert... Wenn das nicht das musikalische Äquivalent zur womöglich trashigen, in den Augen einer breiten Öffentlichkeit unter Umständen trivial-unnötigen, tatsächlich jedoch aus tiefstem Herzen kommenden, beseelt-romantischen Fabulierkunst der Sechziger und Siebziger ist, Grusel in üppigem Technicolor – „Mayhem In Blue“ sei der neueste Soundtrack dazu.
Einen Song möchte ich am Ende dieser Besprechung noch gesondert herausheben, es ist der letzte von insgesamt sechs, allerdings auch der untypischste daraus: „How To Fly In Blackness“, eine lodernde, üppige, regelrecht progressiv-romantische Ballade mit großartigen Akustikgitarren und fast schon kitschigem, die Grenze dahin jedoch nicht überschreitendem Schwelgen im Hintergrund – großartig!
Man darf gespannt darauf sein, was das andere zeitgenössische „Anarcho“-Black Metal-Kommando aus Griechenland – Aenaon – in ein paar Wochen mit seinem ebenfalls neuen Album an bewusstseinserweiternden Momenten zur Thematik und Stilistik beizutragen hat. „Mayhem In Blue“ jedenfalls sollte man kennen – und als physische Reliquie im Plattenschrank stehen haben.
(Herbst 2016)
Anmerkung: Dies ist mir persönlich von all meinen Reviews tatsächlich eines der allerliebsten, denn ich liebe die Bilder, welche es in meinem Kopf erschafft - was natürlich völlig verrückt ist, denn ursprünglich waren es ja eigentlich Bilder, welche in meinem Kopf durch das Hören von „Mayhem In Blue“ sowie dem Betrachten des Covers entstanden sind. In den Folgejahren, also nach 2016, entstanden sie dann jedoch durch das schiere Denken an dieses Review oder natürlich noch verstärkt beim tatsächlichen Lesen davon.
Ich habe kein Problem mit dem neuen Weg, welchen die Band auf ihrem aktuellen Album „Eden In Reverse“ eingeschlagen hat, doch offen gestanden gefielen mir Hail Spirit Noir davor besser. „Mayhem In Blue“, das preise ich auf jeden Fall noch heute gänzlich unverändert zu meiner Wahrnehmung von vor vier Jahren an. Für altmodische Menschen (wie mich) eine verschroben-kauzig-wohlige Erinnerung an längst vergangene Zeiten, welche
so wie oben im Review geschildert natürlich weder tatsächlich existiert haben, noch dass man sie auf eine andere Art und Weise als im Inneren des eigenen Geistes jemals hätte kosten dürfen.