RageXX
Till Deaf Do Us Part
Und weiter geht's...
94. Steven Wilson - Hand. Cannot. Erase (UK, 2015)
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Albums schrieb irgendein Magazin (Visions?) etwas vom "The Wall" der Generation Facebook. Nun mag es treffendere Vergleiche in der Geschichte des Musikjournalismus gegeben haben, doch lässt sich das Geschriebene nicht vollends von der Hand weisen; atmosphärisch und hinsichtlich des enormen musikalischen und konzeptuellen Anspruchs kommt das schon hin, was die musikhistorische Bedeutung des Werks angeht..., nun ja, immerhin reicht's recht deutlich für diese prestigeträchtige Liste - und das auch völlig zurecht, denn musikalisch wird (wie eigentlich immer bei Mr S Wilson) Großartiges geboten. Aber was genau? Nun, der aphone Rabe ist aus- bzw. zurück in die 70er geflogen; "Hand. Cannot. Erase" ist düsterer (ohne tieftraurig zu sein), femininer (man beachte Storyline und Farbgebung des Artworks und lausche gebannt der Performance der wunderbaren Ninet Tayeb im Albumhighlight "Routine"), punktuell metallischer ("Ancestral"), dabei gleichzeitig poppiger (der Titelsong ist ein veritabler Hit, bitte sehr: ) und bereitet letztlich in gewisser Weise auch den beiden polarisierenden Nachfolgern den Weg (ich mag sie ja...). Generell darf man gespannt sein, wie es im Hause Wilson musikalisch weitergeht, auch und insbesondere vor dem Hintergrund der Porcupine-Tree-Reunion. Und die Frage, wo genau der Rabe gelandet ist, bedarf ebenfalls noch der Klärung...
93. Headspace - I Am Anonymous (UK, 2012)
Und weiter geht's mit den Wilson-Festspielen dieser Runde - exit Steven, enter Damian. Herausragender Gesang ist somit garantiert, und natürlich drängt sich die Frage auf, wie sehr das Album nach Threshold klingt. Überraschende (?) Antwort: Gar nicht mal so sehr. "I Am Anonymous" ist deutlich weniger leicht zugänglich als jedes Threshold-Album. Am ehesten taugen die Dream Theater der frühen 2000er-Jahre als Referenz; speziell "Six Degrees" ploppt immer mal wieder auf - etwa in "Daddy Fucking Loves You", der besten Viertelstunde des Albums (https://m.youtube.com/watch?v=fJtD2OYB4O8) - was auch und insbesondere der petrucciesken Gitarrenarbeit von Pete Rinaldi (wo kam der damals eigentlich plötzlich her?) geschuldet ist. Yes, "I Am Anonymous" ist ganz klar ein Gitarrenalbum, was man bei einer Beteiligung des Namen Wakeman (Sohnemann Adam, nicht Papa Rick) vielleicht nicht unbedingt vermutet hätte. Textlich geht es um die großen inneren Kämpfe des Lebens, wobei dies alles in eine nicht allzu leicht zu entschlüsselnde Kriegsmetaphorik gehüllt ist; zumindest ich arbeite noch dran. Letzteres sei auch allen empfohlen, die dieses musikalische Kleinod (noch) nicht kennen - die Mühen lohnen sich!
92. Leprous - Pitfalls (NOR, 2019)
Der Begriff "Gesamtkunstwert" wird für meinen Geschmack teilweise doch recht inflationär verwendet, hier jedoch ist er unbedingt angebracht. Klar, jeder der neun Songs ist auch für sich betrachtet ganz wunderbar, gönnt man sich jedoch das Album am Stück, spürt man sich sofort einem einzigartigen Spannungsbogen unterworfen und sieht nach hinreichend vielen Durchläufen, wie sich die einzelnen Puzzleteile vor dem geistigen Auge förmlich von selbst ineinanderfügen. Die erste Hälfte des Albums ist sehr ruhig, eindeutig nah am Pop gebaut, man muss sich mit ungewohnten Zutaten wie programmierten Drums und Celloakzenten arrangieren (was aber ausgezeichnet gelingt, nicht zuletzt auch wegen Einar Solbergs überirdischer Gesangsperformance, die alles zusammenhält), dann folgt die knapp vierminütige Halbzeitansprache "Alleviate", welche im Laufe der dritten Minute geradezu explodiert; danach ist das Album ein anderes. Die nun folgenden Songs sind weniger fragil (Ausnahme: "Distant Bells", zumindest anfangs), wirken trotziger, selbstbewusster und erinnern jetzt schon ein wenig an die Leprous der "Coal"-"The Congregation"-Malina"-Phase. Das abschließende "The Sky Is Red" hingegen ist ein Fall für sich, ein Monster von einem Song, welches nach knapp sieben Minuten Wahnsinn in ein die restlichen gut vier Minuten füllendes Break mündet, das von einem Gänsehaut erzeugenden, dabei gleichzeitig sensationell minimalistischen Cellomotiv getragen wird (https://m.youtube.com/watch?v=N8vw086Ta7Y) - möge die Nummer auf ewig der Rausschmeißer eines jeden Leprous-Konzerts bleiben! Und - noch viel wichtiger - möge Einar Solberg die inneren Dämonen im Zuge der Erschaffung dieses, jawoll, Gesamtkunstwerts ein für allemal besiegt haben!
Die Headspace vor "Black Clouds..." ist schon eine Nummer, unterstreicht aber nur noch mal, wie geil die Listungen hier sind. Absolut unvorhersehbar und gerade deshalb so wertvoll.
(Eingeschobener) Edit - und ich erlaube mir mal, in Deinen Faden einen Link zu setzen und zwar auf das zurecht gefeierte "Routine" von Steven Wilson, das auch völlig losgelöst vom Konzept des Albums funktioniert - und gerade in Verbindung mit dem dazugehörigen Video nicht nur große Kunst ist, sondern ein melancholisch-emotinales-musikalisches Highlight:
https://www.youtube.com/watch?v=sh5mWzKlhQY
Ansonsten: natürlich 3 großartige Alben, die hier genannt sind, in meiner Sammlung stehen und denen ich so regelmäßig huldige, wie es all' die anderen großartigen Alben in meiner Sammlung und diese speziell in letzer Zeit hohe Schlagzahl an spannendem Zeug, das hier im Forum gepostet wird, zulässt.
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